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Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und
wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem
kleinen Königreiche zu besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht
nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der
stillen Gegend verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem
ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen,
übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß
ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte
der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen
sollte.—“Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen”, sagte meine
Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem
Jagdhause fuhren.—“Nehmen Sie sich in acht”, versetzte die Base, “daß Sie
sich nicht verlieben!”—“Wieso?” sagte ich.—“Sie ist schon
vergeben,“antwortete jene,“an einen sehr braven Mann, der weggereist ist,
seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich
um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben”.—Die Nachricht war mir
ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem
Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre
Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfichten
Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre
Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing,
unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen
Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging
durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden
Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste
Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten
sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt,
mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm
und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen
rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab,
gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein
“danke!”, indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht
hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote
vergnügt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen
davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen,
darin ihre Lotte wegfahren sollte.—“Ich bitte um Vergebung”, sagte sie, “daß
ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik