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und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß ich sie
verstand.
“Wie ich jünger war”, sagte sie, “liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß
Gott, wie wohl mir’s war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen
und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jonny
teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize für
mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muß es auch recht
nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich
meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen
Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich
Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle
unsäglicher Glückseligkeit ist”.
Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das
ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehen
vom Landpriester von Wakefield, vom—reden hörte, kam ich ganz außer
mich, sagte ihr alles, was ich mußte, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da
Lotte das Gespräch an die anderen wendete, daß diese die Zeit über mit
offenen Augen, als säßen sie nicht da, dagesessen hatten. Die Base sah mich
mehr als einmal mit einem spöttischen Näschen an, daran mir aber nichts
gelegen war.
Das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze.—“wenn diese Leidenschaft
ein Fehler ist,“sagte Lotte, “so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts
übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem
verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut”.
Wie ich mich unter dem Gespäche in den schwarzen Augen weidete—wie
die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze Seele
anzogen—wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar
die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdrückte—davon hast du eine
Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein
Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen
rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete,
die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N.—wer behält alle die
Namen—, die der Base und Lottens Tänzer waren, empfingen uns am
Schlage, bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer, und ich führte das meinige
hinauf.
Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich forderte ein
Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten nicht
dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen. Lotte und
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik