Seite - 17 - in Die Leiden des jungen Werthers
Bild der Seite - 17 -
Text der Seite - 17 -
ihr Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir’s war, als sie auch
in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du fühlen. Tanzen muß man sie
sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr
ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das
eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und
in dem Augenblicke gewiß schwindet alles andere vor ihr.
Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mit den dritten zu, und mit
der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mir, daß sie
herzlich gern deutsch tanze.—“Es ist hier so Mode, “fuhr sie fort,” daß jedes
Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen zusammenbleibt, und mein
Chapeau walzt schlecht und dankt mir’s, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr
Frauenzimmer kann’s auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen
gesehen, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche,
so gehen Sie und bitten sich’s von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer
Dame gehen”.—ich gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, daß ihr
Tänzer inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.
Nun ging’s an, und wir ergetzten uns eine Weile an manigfaltigen
Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit
bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und wie die Sphären
um einander herumrollten, ging’s freilich anfangs, weil’s die wenigsten
können, ein bißchen bunt durcheinander. Wir waren klug und ließen sie
austoben, und als die Ungeschicktesten den Plan geräumt hatten, fielen wir
ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin,
wacker aus. Nie ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein
Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und
mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging, und—
Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen,
das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen
sollte als mit mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte. Du verstehst
mich!
Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann
setzte sie sich, und die Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die nun die
einzigen noch übrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur daß mir mit
jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin ehrenhalben
zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.
Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie wir die Reihe
durchtanzten und ich, weiß Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm und Auge
hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des offensten, reinsten Vergnügens
war, kommen wir an eine Frau, die mit wegen ihrer liebenswürdigen Miene
auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte merkwürdig gewesen war. Sie
17
zurück zum
Buch Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik