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genug!” und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel mehr täte
als Wenig—ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer
Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte heraufkam, hätte ich mich gern vor
ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation
weggeweiht hat.
Des Abends konnte ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den
Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menschensinn zutraute, weil er
Verstand hat; aber wie kam ich an! Er sagte, das sei sehr ĂĽbel von Lotten
gewesen; man solle den Kindern nichts weis machen; dergleichen gebe zu
unzähligen Irrtümern und Aberglauben Anlaß, wovor man die Kinder
frühzeitig bewahren müsse.—nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen
hatte taufen lassen, drum ließ ich’s vorbeigehen und blieb in meinem Herzen
der Wahrheit getreu: wir sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns,
der uns am glĂĽcklichsten macht, wenn er uns in freundlichem Wahne so
hintaumeln läßt.
Am 8. Julius
Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man ein
Kind ist!—Wir waren nach Wahlheim gegangen. Die Frauenzimmer fuhren
hinaus, und während unserer Spaziergänge glaubte ich in Lottens schwarzen
Augen—ich bin ein Tor, verzeih mir’s! Du solltest sie sehen, diese Augen.—
DaĂź ich kurz bin (denn die Augen fallen mir zu vor Schlaf): siehe, die
Frauenzimmer stiegen ein, da standen um die Kutsche der junge W., Selstadt
und Audran und ich. Da ward aus dem Schlage geplaudert mit den Kerlchen,
die freilich leicht und lüftig genug waren.—ich suchte Lottens Augen: ach, sie
gingen von einem zum andern! Aber auf mich! Mich! Mich! Der ganz allein
auf sie resigniert dastand, fielen sie nicht!—Mein Herz sagte ihr tausend
Adieu! Und sie sah mich nicht! Die Kutsche fuhr vorbei, und eine Träne stand
mir im Auge. Ich sah ihr nach und sah Lottens Kopfputz sich zum Schlage
herauslehnen, und sie wandte sich um zu sehen, ach! Nach mir?—Lieber! In
dieser UngewiĂźheit schwebe ich; das ist mein Trost: vielleicht hat sie sich
nach mir umgesehen! Vielleicht!—Gute Nacht! O, was ich ein Kind bin!
Am 10. Julius
Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr gesprochen
wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie sie mir gefällt?—
gefällt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muß das für ein Mensch sein,
dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinne, alle Empfindungen ausfüllt!
Gefällt! Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie mir Ossian gefiele!
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik