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Wachs, so wollte ich’s wohl herausbilden. Ich werde auch Ton nehmen,
wenn’s länger währt, und kneten, uns sollten’s Kuchen werden!
Lottens Porträt habe ich dreimal angefangen, und habe mich dreimal
prostituiert; das mich um so mehr verdrieĂźt, weil ich vor einiger Zeit sehr
glĂĽcklich im Treffen war. Darauf habe ich denn ihren SchattenriĂź gemacht,
und damit soll mir g’nügen.
Ja, liebe Lotte, ich will alles besorgen und bestellen; geben Sie mir nur
mehr Aufträge, nur recht oft. Um eins bitte ich Sie: keinen Sand mehr auf die
Zettelchen, die Sie mir schreiben. Heute fĂĽhrte ich es schnell nach der Lippe,
und die Zähne knisterten mir.
Am 26. Julius
Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja
wer das halten könnte! Alle Tage unterlieg’ ich der Versuchung und
verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn der
Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und
ehe ich mich’s versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des Abends gesagt:
“Sie kommen doch morgen?”—wer könnte da wegbleiben? Oder sie gibt mir
einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr selbst die Antwort zu bringen;
oder der Tag ist gar zu schön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich nun da
bin, ist’s nur noch eine halbe Stunde zu ihr!—ich bin zu nah in der
Atmosphäre—zuck! So bin ich dort. Meine Großmutter hatte ein Märchen
vom Magnetenberg: die Schiffe, die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles
Eisenwerks beraubt, die Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden
scheiterten zwischen den ĂĽbereinander stĂĽrzenden Brettern.
Am 30. Julius
Albert ist angekommen, und ich werde gehen; und wenn er der beste, der
edelste Mensch wäre, unter den ich mich in jeder Betrachtung zu stellen bereit
wäre, so wär’s unerträglich, ihn vor meinem Angesicht im Besitz so vieler
Vollkommenheit zu sehen.—Besitz!—genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da!
Ein braver, lieber Mann, dem man gut sein muĂź. GlĂĽcklicherweise war ich
nicht beim Empfange! Das hätte mir das Herz zerrissen. Auch ist er so ehrlich
und hat Lotten in meiner Gegenwart noch nicht ein einzigmal gekĂĽĂźt. Das
lohn’ ihm Gott! Um des Respekts willen, den er vor dem Mädchen hat, muß
ich ihn lieben. Er will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr
als seiner eigenen Empfindung; denn darin sind die Weiber fein und haben
recht; wenn sie zwei Verehrer in gutem Vernehmen mit einander erhalten
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik