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ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen
Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.
Vergebens, daß der gelassene, vernünftige Mensch den Zustand
Unglücklichen übersieht, vergebens, daß er ihm zuredet! Ebenso wie ein
Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kräften nicht das
geringste einflößen kann”.
Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein
Mädchen, das man vor weniger Zeit im Wasser tot gefunden, und wiederholte
ihm ihre Geschichte.—“Ein gutes, junges Geschöpf, das in dem engen Kreise
häuslicher Beschäftigungen, wöchentlicher bestimmter Arbeit
herangewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergnügen kannte, als
etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften Putz mit
ihresgleichen um die Stadt spazierenzugehen, vielleicht alle hohen Feste
einmal zu tanzen und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Anteils
manche Stunde über den Anlaß eines Gezänkes, einer übeln Nachrede mit
einer Nachbarin zu verplaudern—deren feurige Natur fühlt nun endlich
innigere Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleien der Männer vermehrt
werden; ihre vorigen Freuden werden ihr nach und nach unschmackhaft, bis
sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie
unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt
rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den
Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leeren
Vergnügungen einer unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr
Verlangen gerade nach dem Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in
ewiger Verbindung all das Glück antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung
aller Freuden genießen, nach denen sie sich sehnte. Wiederholtes
Versprechen, das ihr die Gewißheit aller Hoffnungen versiegelt, kühne
Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele; sie
schwebt in einem dumpfen Bewußtsein, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie
ist bis auf den höchsten Grad gespannt, sie streckt endlich ihre Arme aus, all
ihre Wünsche zu umfassen—und ihr Geliebter verläßt sie.—Erstarrt, ohne
Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles ist Finsternis um sie her, keine
Aussicht, kein Trost, keine Ahnung! Denn der hat sie verlassen, in dem sie
allein ihr Dasein fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht
die vielen, die ihr de Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen
von aller Welt,—und blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Not
ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode
alle ihre Qualen zu ersticken.—Sieh, Albert, das ist die Geschichte so
manches Menschen! Und sag’, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur
findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und
widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben. Wehe dem, der
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik