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alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das
macht mir denn so manche glückliche Stunde—bis ich mich wieder von ihr
losreißen muß! Ach Wilhelm! Wozu mich mein Herz oft drängt!—wenn ich
bei ihr gesessen bin, zwei, drei Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem
Betragen, an dem himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun
nach und nach alle meine Sinne aufgespannt werden, mir es düster vor den
Augen wird, ich kaum noch höre, und es mich an die Gurgel faßt wie ein
Meuchelmörder, dann mein Herz in wilden Schlägen den bedrängten Sinnen
Luft zu machen sucht und ihre Verwirrung nur vermehrt—Wilhelm, ich weiß
oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und—wenn nicht manchmal die Wehmut
das Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer
Hand meine Beklemmung auszuweinen,—so muß ich fort, muß hinaus, und
schweife dann weit im Felde umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann
meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten,
durch die Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen!
Da wird mir’s etwas besser! Etwas! Und wenn ich vor Müdigkeit und Durst
manchmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der
hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde auf einen krumm
gewachsenen Baum mich setze, um meinen verwundeten Sohlen nur einige
Linderung zu verschaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem
Dämmerschein hinschlummre! O Wilhelm! Die einsame Wohnung einer
Zelle, das härene Gewand und der Stachelgürtel wären Labsale, nach denen
meine Seele schmachtet. Adieu! Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das
Grab.
Am 3. September
Ich muß fort! Ich danke dir, Wilhelm, daß du meinen wankenden Entschluß
bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem Gedanken um, sie zu
verlassen. Ich muß fort. Sie ist wieder in der Stadt bei einer Freundin. Und
Albert—und—ich muß fort!
Am 10. September
Das war eine Nacht! Wilhelm! Nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht
wiedersehn! O daß ich nicht an deinen Hals fliegen, dir mit tausend Tränen
und Entzückungen ausdrücken kann, mein Bester, die Empfindungen, die
mein Herz bestürmen. Hier sitze ich und schnappe nach Luft, suche mich zu
beruhigen, erwarte den Morgen, und mit Sonnenaufgang sind die Pferde
bestellt.
Ach, sie schläft ruhig und denkt nicht, daß sie mich nie wieder sehen wird.
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik