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Ich habe mich losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem Gespräch von
zwei Stunden mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott, welch ein
Gespräch!
Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im
Garten zu sein. Ich stand auf der Terrasse unter den hohen Kastanienbäumen
und sah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmale über dem lieblichen
Tale, über dem sanften Fluß unterging. So oft hatte ich hier gestanden mit ihr
und eben dem herrlichen Schauspiele zugesehen, und nun—ich ging in der
Allee auf und ab, die mir so lieb war; ein geheimer sympathetischer Zug hatte
mich hier so oft gehalten, ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir
uns, als wir im Anfang unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu
diesem Plätzchen entdeckten, das wahrhaftig eins von den romantischsten ist,
die ich von der Kunst hervorgebracht gesehen habe.
Erst hast du zwischen den Kastanienbäumen die weite Aussicht—Ach, ich
erinnere mich, ich habe dir, denk’ ich, schon viel davon geschrieben, wie hohe
Buchenwände einen endlich einschließen und durch ein daranstoßendes
Boskett die Allee immer düsterer wird, bis zuletzt alles sich in ein
geschlossenes Plätzchen endigt, das alle Schauer der Einsamkeit
umschweben. Ich fühle es noch, wie heimlich mir’s ward, als ich zum
erstenmale an einem hohen Mittage hineintrat; ich ahnete ganz leise, was für
ein Schauplatz das noch werden sollte von Seligkeit und Schmerz.
Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in den schmachtenden, süßen
Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehens geweidet, als ich sie die
Terrasse heraufsteigen hörte. Ich lief ihnen entgegen, mit einem Schauer faßte
ich ihre Hand und küßte sie. Wir waren eben heraufgetreten, als der Mond
hinter dem buschigen Hügel aufging; wir redeten mancherlei und kamen
unvermerkt dem düstern Kabinette näher. Lotte trat hinein und setzte sich,
Albert neben sie, ich auch; doch meine Unruhe ließ mich nicht lange sitzen;
ich stand auf, trat vor sie, ging auf und ab, setzte mich wieder: es war ein
ängstlicher Zustand. Sie machte uns aufmerksam auf die schöne Wirkung des
Mondenlichtes, das am Ende der Buchenwände die ganze Terrasse vor uns
erleuchtete: ein herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns
rings eine tiefe Dämmerung einschloß. Wir waren still, und sie fing nach einer
Weile an: “niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals, daß mir
nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, daß nicht das Gefühl
von Tod, von Zukunft über mich käme”. “Wir werden sein!” fuhr sie mit der
Stimme des herrlichsten Gefühls fort; “aber, Werther, sollen wir uns wieder
finden? Wieder erkennen? Was ahnen Sie? Was sagen Sie?”
“Lotte”, sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll
Tränen wurden,“wir werden uns wiedersehn! Hier und dort wiedersehn!”—
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik