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ich konnte nicht weiter redenâWilhelm, muĂte sie mich das fragen, da ich
diesen Àngstlichen Abschied im Herzen hatte!
âUnd ob die lieben Abgeschiednen von uns wissenâ, fuhr sie fort, âob sie
fĂŒhlen, wannâs uns wohl geht, daĂ wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern?
O! Die Gestalt meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn ich am stillen
Abend unter ihren Kindern, unter meinen Kindern sitze und sie um mich
versammelt sind, wie sie um sie versammelt waren. Wenn ich dann mit einer
sehnenden TrĂ€ne gen Himmel sehe und wĂŒnsche, daĂ sie hereinschauen
könnte einen Augenblick, wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der des
Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu sein. Mit welcher Empfindung rufe ich
aus: âverzeihe mirâs, Teuerste, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst.
Ach! Tue ich doch alles, was ich kann; sind sie doch gekleidet, genÀhrt, ach,
und, was mehr ist als das alles, gepflegt und geliebt. Könntest du unsere
Eintracht sehen, liebe Heilige! Du wĂŒrdest mit dem heiĂesten Danke den Gott
verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten TrÀnen um die Wohlfahrt
deiner Kinder batest.âââSie sagte das! O Wilhelm, wer kann wiederholen,
was sie sagte! Wie kann der kalte, tote Buchstabe diese himmlische BlĂŒte des
Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft in die Rede: âes greift zu stark an,
liebe Lotte! Ich weiĂ, Ihre Seele hĂ€ngt sehr nach diesen Ideen, aber ich bitte
Sieâ.ââO Albertâ, sagte sie, âich weiĂ, du vergissest nicht die Abende, da
wir zusammensaĂen an dem kleinen, runden Tischchen, wenn der Papa
verreist war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten. Du hattest oft ein
gutes Buch und kannst so selten dazu, etwas zu lesenâwar der Umgang
dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles? Die schöne, sanfte, muntere und
immer tÀtige Frau! Gott kennt meine TrÀnen, mit denen ich mich oft in
meinem Bette vor ihn hinwarf: er möchte mich ihr gleich machenâ.
âLotte!â rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hand nahm und
mit tausend TrĂ€nen netzte, âLotte! Der Segen Gottes ruht ĂŒber dir und der
Geist deiner Mutter!â âWenn Sie sie gekannt hĂ€ttenâ, sagte sie, indem sie mir
die Hand drĂŒckte,ââsie war wert, von Ihnen gekannt zu sein!ââich glaubte
zu vergehen.
Nie war ein gröĂeres, stolzeres Wort ĂŒber mich ausgesprochen wordenâ
und sie fuhr fort:âund diese Frau muĂte in der BlĂŒte ihrer Jahre dahin, da ihr
jĂŒngster Sohn nicht sechs Monate alt war! Ihre Krankheit dauerte nicht lange;
sie war ruhig, hingegeben, nur ihre Kinder taten ihr weh, besonders das
kleine. Wie es gegen das Ende ging und sie zu mir sagte: âbringe mir sie
herauf!â und wie ich sie hereinfĂŒhrte, die kleinen, die nicht wuĂten, und die
Ă€ltesten, die ohne Sinne waren, wie sie ums Bette standen, und wie sie die
HĂ€nde aufhob und ĂŒber sie betete, und sie kĂŒĂte nach einander und sie
wegschickte und zu mir sagte: âsei ihre Mutter!ââIch gab ihr die Hand drauf!
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik