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Der Sauerteig, der mein Leben in Bewegung setzte, fehlt; der Reiz, der
mich in tiefen Nächten munter erhielt, ist hin, der mich des Morgens aus dem
Schlafe weckte, ist weg.
Ein einzig weibliches Geschöpf habe ich hier gefunden, eine Fräulein von
B… , sie gleicht Ihnen, liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann.” “Ei!”
werden Sie sagen, “der Mensch legt sich auf niedliche Komplimente!” ganz
unwahr ist es nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr artig, weil ich doch nicht
anders sein kann, habe viel Witz, und die Frauenzimmer sagen, es wĂĽĂźte
niemand so fein zu loben als ich (und zu lĂĽgen, setzen Sie hinzu, denn ohne
das geht es nicht ab, verstehen Sie?). Ich wollte von Fräulein B… reden. Sie
hat viel Seele, die voll aus ihren blauen Augen hervorblickt. Ihr Stand ist ihr
zur Last, der keinen der WĂĽnsche ihres Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus
dem Getümmel, und wir verphantasieren manche Stunde in ländlichen Szenen
von ungemischter GlĂĽckseligkeit; ach! und von Ihnen! Wie oft muĂź sie Ihnen
huldigen, muß nicht, tut es freiwillig, hört so gern von Ihnen, liebt Sie.—O
säß’ ich zu Ihren Füßen in dem lieben, vertraulichen Zimmerchen, und unsere
kleinen Lieben wälzten sich mit einander um mich herum, und wenn sie Ihnen
zu laut würden, wollte ich sie mit einem schauerlichen Märchen um mich zur
Ruhe versammeln.
Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der
Sturm ist hinüber gezogen, und ich—muß mich wieder in meinen Käfig
sperren.—Adieu! Ist Albert bei Ihnen? Und wie—? Gott verzeihe mir diese
Frage!
Den 8. Februar
Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste Wetter, und mir ist es
wohltätig. Denn so lang ich hier bin, ist mir noch kein schöner Tag am
Himmel erschienen, den mir nicht jemand verdorben oder verleidet hätte.
Wenn’s nun recht regnet und stöbert und fröstelt und taut: ha! Denk’ ich,
kann’s doch zu Hause nicht schlimmer werden, als es draußen ist, oder
umgekehrt, und so ist’s gut. Geht die Sonne des Morgens auf und verspricht
einen feinen Tag, erwehr’ ich mir niemals auszurufen: da haben sie doch
wieder ein himmlisches Gut, worum sie einander bringen können! Es ist
nichts, worum sie einander nicht bringen. Gesundheit, guter Name,
Freudigkeit, Erholung! Und meist aus Albernheit, Unbegriff und Enge und,
wenn man sie anhört, mit der besten Meinung. Manchmal möcht’ ich sie auf
den Knieen bitten, nicht so rasend in ihre eigenen Eingeweide zu wĂĽten.
Am 17. Februar
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik