Seite - 58 - in Die Leiden des jungen Werthers
Bild der Seite - 58 -
Text der Seite - 58 -
Albert sie um den schlanken Leib faßt.
Und, darf ich es sagen? Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir
glücklicher geworden als mit ihm! O er ist nicht der Mensch, die Wünsche
dieses Herzens alle zu füllen. Ein gewisser Mangel an Fühlbarkeit, ein
Mangel—nimm es, wie du willst; daß sein Herz nicht sympathetisch schlägt
bei—O!—bei der Stelle eines lieben Buches, wo mein Herz und Lottens in
einem zusammentreffen; in hundert andern Vorfällen, wenn es kommt, daß
unsere Ermpfindungen über eine Handlung eines Dritten laut werden. Lieber
Wilhelm!—Zwar er liebt sie von ganzer Seele, und so eine Liebe, was
verdient die nicht!
—Ein unerträglicher Mensch hat mich unterbrochen. Meine Tränen sind
getrocknet. Ich bin zerstreut. Adieu, Lieber!
Am 4. August
Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen werden in ihren Hoffnungen
getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen. Ich besuchte mein gutes Weib unter
der Linde. Der älteste Junge lief mir entgegen, sein Freudengeschrei führte
die Mutter herbei, die sehr niedergeschlagen aussah. Ihr erstes Wort
war:“guter Herr, ach, mein Hans ist mir gestorben!”—Es war der jüngste ihrer
Knaben. Ich war stille. “Und mein Mann,” sagte sie, “ist aus der Schweiz
zurück und hat nichts mitgebracht, und ohne gute Leute hätte er sich heraus
betteln müssen, er hatte das Fieber unterwegs gekriegt.”—Ich konnte ihr
nichts sagen und schenkte dem Kleinen was; sie bat mich, einige Äpfel
anzunehmen, das ich tat und den Ort des traurigen Andenkens verließ.
Am 21. August
Wie man eine Hand umwendet, ist es anders mit mir. Manchmal will wohl
ein freudiger Blick des Lebens wieder aufdämmern, ach, nur für einen
Augenblick!—Wenn ich mich so in Träumen verliere, kann ich mich des
Gedankens nicht erwehren: wie, wenn Albert stürbe? Du würdest! Ja, sie
würde—und dann laufe ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an Abgründe
führet, vor denen ich zurückbebe.
Wenn ich zum Tor hinausgehe, den Weg, den ich zum erstenmal fuhr,
Lotten zum Tanze zu holen, wie war das so ganz anders! Alles, alles ist
vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines
damaligen Gefühles. Mir ist es, wie es einem Geiste sein müßte, der in das
ausgebrannte, zerstörte Schloß zurückkehrte, das er als blühender Fürst einst
gebaut und mit allen Gaben der Herrlichkeit ausgestattet, sterbend seinem
geliebten Sohne hoffnungsvoll hinterlassen hätte.
58
zurück zum
Buch Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik