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Am 3. September
Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann, lieb
haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts anders
kenne, noch weiß, noch habe als sie!
Am 4. September
Ja, es ist so. Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir
und um mich her. Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der
benachbarten Bäume abgefallen. Hab’ ich dir nicht einmal von einem
Bauerburschen geschrieben, gleich da ich herkam? Jetzt erkundigte ich mich
wieder nach ihm in Wahlheim; es hieß, er sei aus dem Diemste gejagt worden,
und niemand wollte was weiter von ihm wissen. Gestern traf ich ihn von
ungefähr auf dem Wege nach einem andern Dorfe, ich redete ihn an, und er
erzählte mir seine Geschichte, die mich doppelt und dreifach gerührt hat, wie
du leicht begreifen wirst, wenn ich dir sie wiedererzähle. Doch wozu das
alles? Warum behalt’ ich nicht für mich, was mich ängstigt und kränkt?
Warum betrüb’ ich noch dich? Warum geb’ ich dir immer Gelegenheit, mich
zu bedauern und mich zu schelten? Sei’s denn, auch das mag zu meinem
Schicksal gehören!
Mit einer stillen Traurigkeit, in der ich ein wenig scheues Wesen zu
bemerken schien, antwortete der Mensch mir erst auf meine Fragen; aber gar
bald offner, als wenn er sich und mich auf einmal wiedererkennte, gestand er
mir seine Fehler, klagte er mir sein Unglück. Könnt’ ich dir, mein Freund,
jedes seiner Worte vor Gericht stellen! Er bekannte, ja er erzählte mit einer
Art von Genuß und Glück der Wiedererinnerung, daß die Leidenschaft zu
seiner Hausfrau sich in ihm tagtäglich vermehrt, daß er zuletzt nicht gewußt
habe, was er tue, nicht, wie er sich ausdrückte, wo er mit dem Kopfe
hingesollt. Er habe weder essen noch trinken noch schlafen können, es habe
ihm an der Kehle gestockt, er habe getan, was er nicht tun sollen; was ihm
aufgetragen worden, hab’ er vergessen, er sei als wie von einem bösen Geist
verfolgt gewesen, bis er eines Tages, als er sie in einer obern Kammer
gewußt, ihr nachgegangen, ja vielmehr ihr nachgezogen worden sei; da sie
seinen Bitten kein Gehör gegeben, hab’ er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen
wollen; er wisse nicht, wie ihm geschehen sei, und nehme Gott zum Zeugen,
daß seine Absichten gegen sie immer redlich gewesen, und daß er nichts
sehnlicher gewünscht, als daß sie ihn heiraten, daß sie mit ihm ihr Leben
zubringen möchte. Da er eine Zeitlang geredet hatte, fing er an zu stocken,
wie einer, der noch etwas zu sagen hat und sich es nicht herauszusagen
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik