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Sie hatte ein Zettelchen an ihren Mann aufs Land geschrieben, wo er sich
Geschäfte wegen aufhielt. Es fing an: “Bester, Liebster, komme, sobald du
kannst, ich erwarte dich mit tausend Freuden.”—Ein Freund, der hereinkam,
brachte Nachricht, daß er wegen gewisser Umstände so bald noch nicht
zurückkehren würde. Das Billett blieb liegen und fiel mir abends in die
Hände. Ich las es und lächelte; sie fragte worüber?—“Was die
Einbildungskraft für ein göttliches Geschenk ist,” rief ich aus, “ich konnte mir
einen Augenblick vorspiegeln, als wäre es an mich geschrieben.”—Sie brach
ab, es schien ihr zu mißfallen, und ich schwieg.
Am 6. September
Es hat schwer gehalten, bis ich mich entschloß, meinen blauen einfachen
Frack, in dem ich mit Lotten zum erstenmale tanzte, abzulegen, er ward aber
zuletzt gar unscheinbar. Auch habe ich mir einen machen lassen ganz wie den
vorigen, Kragen und Aufschlag, und auch wieder so gelbe Weste und
Beinkleider dazu. Ganz will es doch die Wirkung nicht tun. Ich weiß nicht—
ich denke, mit der Zeit soll mir der auch lieber werden.
Am 12. September
Sie war einige Tage verreist, Alberten abzuholen. Heute trat ich in ihre
Stube, sie kam mir entgegen, und ich küßte ihre Hand mit tausend Freuden.
Ein Kanarienvogel flog von dem Spiegel ihr auf die Schulter. —“Einen
neuen Freund,” sagte sie und lockte ihn auf ihre Hand, “er ist meinen Kleinen
zugedacht. Er tut gar zu lieb! Sehen Sie ihn! Wenn ich ihm Brot gebe, flattert
er mit den Flügeln und pickt so artig. Er küßt mich auch, sehen Sie!”
Als sie dem Tierchen den Mund hinhielt, drückte es sich so lieblich in die
süßen Lippen, als wenn es die Seligkeit hätte fühlen können, die es genoß.
“Er soll Sie auch küssen,” sagte sie und reichte den Vogel herüber. —Das
Schnäbelchen machte den Weg von ihrem Munde zu dem meinigen, und die
pickende Berührung war wie ein Hauch, eine Ahnung liebevollen Genusses.
“Sein Kuß,” sagte ich, “ist nicht ganz ohne Begierde, er sucht Nahrung und
kehrt unbefriedigt von der leeren Liebkosung zurück.”
“Er ißt mir auch aus dem Munde.“sagte sie.—Sie reichte ihm einige
Brosamen mit ihren Lippen, aus denen die Freuden unschuldig teilnehmender
Liebe in aller Wonne lächelten.
Ich kehrte das Gesicht weg. Sie sollte es nicht tun, sollte nicht meine
Einbildungskraft mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit
reizen und mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik