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Gleichgültigkeit des Lebens wiegt, nicht wecken!—Und warum nicht?—Sie
traut mir so! Sie weiß, wie ich sie liebe!
Am 15. September
Man möchte rasend werden, Wilhelm, daß es Menschen geben soll ohne
Sinn und Gefühl an dem wenigen, was auf Erden noch einen Wert hat. Du
kennst die Nußbäume, unter denen ich bei dem ehrlichen Pfarrer zu St… mit
Lotten gesessen, die herrlichen Nußbäume, die mich, Gott weiß, immer mit
dem größten Seelenvergnügen füllten! Wie vertraulich sie den Pfarrhof
machten, wie kühl! Und wie herrlich die Äste waren! Und die Erinnerung bis
zu den ehrlichen Geistlichen, die sie vor vielen Jahren pflanzten. Der
Schulmeister hat uns den einen Namen oft genannt, den er von seinem
Großvater gehört hatte; und so ein braver Mann soll er gewesen sein, und sein
Andenken war immer heilig unter den Bäumen. Ich sage dir, dem
Schulmeister standen die Tränen in den Augen, da wir gestern davon redeten,
daß sie abgehauen worden— abgehauen! Ich möchte toll werden, ich könnte
den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat. Ich, der ich mich vertrauern
könnte, wenn so ein paar Bäume in meinem Hofe stünden und einer davon
stürbe vor Alter ab, ich muß zusehen. Lieber Schatz, eins ist doch dabei: was
Menschengefühl ist! Das ganze Dorf murrt, und ich hoffe, die Frau Pfarrerin
soll es an Butter und Eiern und übrigem Zutrauen spüren, was für eine Wunde
sie ihrem Orte gegeben hat. Denn sie ist es, die Frau des neuen Pfarrers (unser
alter ist auch gestorben), ein hageres, kränkliches Geschöpf, das sehr Ursache
hat, an der Welt keinen Anteil zu nehmen, denn niemand nimmt Anteil an ihr.
Eine Närrin, die sich abgibt, gelehrt zu sein, sich in die Untersuchung des
Kanons meliert, gar viel an der neumodischen, moralisch-kritischen
Reformation des Christentumes arbeitet und über Lavaters Schwärmereien die
Achseln zuckt, eine ganz zerrüttete Gesundheit hat und deswegen auf Gottes
Erdboden keine Freude. So einer Kreatur war es auch allein möglich, meine
Nußbäume abzuhauen. Siehst du, ich komme nicht zu mir! Stelle dir vor: die
abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, die Bäume
nehmen ihr das Tageslicht, und wenn die Nüsse reif sind, so werfen die
Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die Nerven, das stört sie in
ihren tiefen Überlegungen, wenn sie Kennikot, Semler und Michaelis gegen
einander abwiegt. Da ich die Leute im Dorfe, besonders die alten, so
unzufrieden sah, sagte ich:“warum habt ihr es gelitten?”—“wenn der Schulze
will, hier zu Lande,” sagten sie, “was kann man machen?”—Aber eins ist
recht geschehen. Der Schulze und der Pfarrer, der doch auch von seiner
Frauen Grillen, die ihm ohnedies die Suppen nicht fett machen, was haben
wollte, dachten es mit einander zu teilen; da erfuhr es die Kammer und sagte:
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik