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Sie sieht nicht, sie fĂĽhlt nicht, daĂź sie ein Gift bereitet, das mich und sie
zugrunde richten wird; und ich mit voller Wollust schlĂĽrfe den Becher aus,
den sie mir zu meinem Verderben reicht. Was soll der gĂĽtige Blick, mit dem
sie mich oft—oft?—nein, nicht oft, aber doch manchmal ansieht, die
Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen Ausdruck meines Gefühls
aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich auf ihrer Stirne
zeichnet?
Gestern, als ich wegging, reichte sie mir die Hand und sagte: “Adieu, lieber
Werther!”—Lieber Werther! Es war das erstemal, daß sie mich Lieber hieß,
und es ging mir durch Mark und Bein. Ich habe es mir hundertmal wiederholt,
und gestern nacht, da ich zu Bette gehen wollte und mit mir selbst allerlei
schwatzte, sagte ich so auf einmal: “gute Nacht, lieber Werther!” und mußte
hernach selbst ĂĽber mich lachen.
Am 22. November
Ich kann nicht beten: “laß mir sie!” und doch kommt sie mir oft als die
Meine vor. Ich kann nicht beten: “gib mir sie!” denn sie ist eines andern. Ich
witzle mich mit meinen Schmerzen herum; wenn ich mir’s nachließe, es gäbe
eine ganze Litanei von Antithesen.
Am 24. November
Sie fĂĽhlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs Herz gedrungen.
Ich fand sie allein; ich sagte nichts, und sie sah mich an. Und ich sah nicht
mehr in ihr die liebliche Schönheit, nicht mehr das Leuchten des trefflichen
Geistes, das war alles vor meinen Augen verschwunden. Ein weit herrlicherer
Blick wirkte auf mich, voll Ausdruck des innigsten Anteils, des sĂĽĂźesten
Mitleidens. Warum durft’ ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? Warum durft’
ich nicht an ihrem Halse mit tausend KĂĽssen antworten? Sie nahm ihre
Zuflucht zum Klavier und hauchte mit sĂĽĂźer, leiser Stimme harmonische
Laute zu ihrem Spiele. Nie habe ich ihre Lippen so reizend gesehn; es war, als
wenn sie sich lechzend öffneten, jene süßen Töne in sich zu schlürfen, die aus
dem Instrument hervorquollen, und nur der heimliche Widerschall aus dem
reinen Munde zurückklänge—ja wenn ich dir das so sagen könnte!—Ich
widerstand nicht länger, neigte mich und schwur: nie will ich es wagen, einen
KuĂź euch aufzudrĂĽcken, Lippen, auf denen die Geister des Himmels
schweben.—Und doch—ich will—ha! Siehst du, das steht wie eine
Scheidewand vor meiner Seele—diese Seligkeit—und dann untergegangen,
diese Sünde abzubüßen—Sünde?
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik