Seite - 69 - in Die Leiden des jungen Werthers
Bild der Seite - 69 -
Text der Seite - 69 -
alles aus.—“Er war also glücklich?“fragte ich.—“Ach ich wollte, ich wäre
wieder so!” sagte er “Da war mir es so wohl, so lustig, so leicht wie einem
Fisch im Wasser!”—“Heinrich!” rief eine alte Frau, die den Weg herkam,
“Heinrich, wo steckst du? Wir haben dich überall gesucht, komm zum
Essen.”—“Ist das euer Sohn?” fragt’ ich, zu ihr tretend.—“Wohl, mein armer
Sohn!” versetzte sie. “Gott hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt.”—“Wie
lange ist er so?” fragte ich.—“So stille,” sagte sie, “ist er nun ein halbes Jahr.
Gott sei Dank, daĂź er nur so weit ist, vorher war er ein ganzes Jahr rasend, da
hat er an Ketten im Tollhause gelegen. Jetzt tut er niemand nichts, nur hat er
immer mit Königen und Kaisern zu schaffen. Er war ein so guter, stiller
Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal
wird er tiefsinnig, fällt in ein hinziges Fieber, daraus in Raserei, und nun ist
er, wie Sie ihn sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr.”—Ich unterbrach
den Strom ihrer Worte mit der Frage: “was war denn das für eine Zeit, von der
er rühmt, daß er so glücklich, so wohl darin gewesen sei?”—“Der törichte
Mensch!” rief sie mit mitleidigem Lächeln, “da meint er die Zeit, da er von
sich war, das rĂĽhmt er immer; das ist die Zeit, da er im Tollhause war, wo er
nichts von sich wußte.”—Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag, ich drückte
ihr ein StĂĽck Geld in die Hand und verlieĂź sie eilend. Da du glĂĽcklich warst!
Rief ich aus, schnell vor mich hin nach der Stadt zu gehend, da dir es wohl
war wie einem Fisch im Wasser!—Gott im Himmel! Hast du das zum
Schicksale der Menschen gemacht, daĂź sie nicht glĂĽcklich sind, als ehe sie zu
ihrem Verstande kommen und wenn sie ihn wieder verlieren!—Elender! Und
auch wie beneide ich deinen TrĂĽbsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du
verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu
pflücken—im Winter—und trauerst, da du keine findest, und begreifst nicht,
warum du keine finden kannst. Und ich—und ich gehe ohne Hoffnung, ohne
Zweck heraus und kehre wieder heim, wie ich gekommen bin.—Du wähnst,
welcher Mensch du sein wĂĽrdest, wenn die Generalstaaten dich bezahlten.
Seliges Geschöpf, das den Mangel seiner Glückseligkeit einer irdischen
Hindernis zuschreiben kann! Du fĂĽhlst nicht, du fĂĽhlst nicht, daĂź in deinem
zerstörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle
Könige der Erde dir nicht helfen können. Müsse der trostlos umkommen, der
eines Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist, die seine
Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird! Der sich
über das bedrängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse loszuwerden
und die Leiden seiner Seele abzutun, eine Pilgrimschaft nach dem heiligen
Grabe tut. Jeder FuĂźtritt, der seine Sohlen auf ungebahntem Wege
durchschneidet, ist ein Linderungstropfen der geängsteten Seele, und mit
jeder ausgedauerten Tagereise legt sich das Herz um viele Bedrängnisse
leichter nieder.—Und dürft ihr das Wahn nennen, ihr Wortkrämer auf euren
Polstern?—Wahn!—o Gott! Du siehst meine Tränen! Mußtest du, der du den
69
zurĂĽck zum
Buch Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik