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Menschen arm genug erschufst, ihm auch BrĂĽder zugeben, die ihm das
biĂźchen Armut, das biĂźchen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf
dich, du Allliebender! Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den
Tränen des Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, daß du in alles, was
uns umgibt, Heil—und Linderungskraft gelegt hast, der wir so stündlich
bedĂĽrfen? Vater, den ich nicht kenne! Vater, der sonst meine ganze Seele
fĂĽllte und nun sein Angesicht von mir gewendet hat, rufe mich zu dir!
Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese dürstende Seele nicht
aufhalten—und würde ein Mensch, ein Vater, zürnen können, dem sein
unvermutet rückkehrender Sohn um den Hals fiele und riefe: “ich bin wieder
da, mein Vater! ZĂĽrne nicht, daĂź ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach
deinem Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerlei, auf Mühe
und Arbeit Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur wohl, wo du
bist, und vor deinem Angesichte will ich leiden und genießen.”—Und du,
lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen?
Am 1. Dezember
Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb, der glĂĽckliche
UnglĂĽckliche, war Schreiber bei Lottens Vater, und eine Leidenschaft zu ihr,
die er nährte, verbarg, entdeckte und worüber er aus dem Dienst geschickt
wurde, hat ihn rasend gemacht. FĂĽhle bei diesen trocknen Worten, mit
welchem Unsinn mich die Geschichte ergriffen hat, da mir sie Albert ebenso
gelassen erzählte, als du sie vielleicht liesest.
Am 4. Dezember
Ich bitte dich—siehst du, mit mir ist’s aus, ich trag’ es nicht länger! Heute
saß ich bei ihr—saß, sie spielte auf ihrem Klavier, mannigfaltige Melodien,
und all den Ausdruck! All!—All!—Was willst du?—Ihr Schwesterchen putzte
ihre Puppe auf meinem Knie. Mir kamen die Tränen in die Augen. Ich neigte
mich, und ihr Trauring fiel mir ins Gesicht—meine Tränen flossen—und auf
einmal fiel sie in die alte, himmelsĂĽĂźe Melodie ein, so auf einmal, und mir
durch die Seele gehn ein TrostgefĂĽhl und eine Erinnerung des Vergangenen,
der Zeiten, da ich das Lied gehört, der düstern Zwischenräume des
Verdrusses, der fehlgeschlagenen Hoffnungen, und dann—ich ging in der
Stube auf und nieder, mein Herz erstickte unter dem Zudringen. —“Um
Gottes willen,” sagte ich, mit einem heftigen Ausbruch hin gegen sie fahrend,
“um Gottes willen, hören Sie auf!”—Sie hielt und sah mich starr an.”
Werther, “sagte sie mit einem Lächeln, das mir durch die Seele ging,
“Werther, Sie sind sehr krank, Ihre Lieblingsgerichte widerstehen Ihnen.
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik