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ganz gelassen: “keiner wird sie haben, sie wird keinen haben.”—Man brachte
den Gefangnen in die Schenke, und Werther eilte fort.
Durch die entsetzliche, gewaltige Berührung war alles, was in seinem
Wesen lag, durcheinandergeschüttelt worden. Aus seiner Trauer, seinem
Mißmut, seiner gleichgültigen Hingegebenheit wurde er auf einen Augenblick
herausgerissen; unüberwindlich bemächtigte sich die Teilnehmung seiner, und
es ergriff ihn eine unsägliche Begierde, den Menschen zu retten. Er fühlte ihn
so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher selbst so schuldlos, er setzte sich so
tief in seine Lage, daß er gewiß glaubte, auch andere davon zu überzeugen.
Schon wünschte er für ihn sprechen zu können, schon drängte sich der
lebhafteste Vortrag nach seinen Lippen, er eilte nach dem Jagdhause und
konnte sich unterwegs nicht enthalten, alles das, was er dem Amtmann
vorstellen wollte, schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat, fand er Alberten gegenwärtig, dies verstimmte ihn
einen Augenblick; doch faßte er sich bald wieder und trug dem Amtmann
feurig seine Gesinnungen vor. Dieser schüttelte einigemal den Kopf, und
obgleich Werther mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit
alles vorbrachte, was ein Mensch zur Entschuldigung eines Menschen sagen
kann, so war doch, wie sich’s leicht denken läßt, der Amtmann dadurch nicht
gerührt. Er ließ vielmehr unsern Freund nicht ausreden, widersprach ihm
eifrig und tadelte ihn, daß er einen Meuchelmörder in Schutz nehme; er zeigte
ihm, daß auf diese Weise jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des Staats
zugrunde gerichtet werde; auch setzte er hinzu, daß er in einer solchen Sache
nichts tun könne, ohne sich die größte Verantwortung aufzuladen, es müsse
alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen Gang gehen.
Werther ergab sich noch nicht, sondern bat nur, der Amtmann möchte
durch die Finger sehn, wenn man dem Menschen zur Flucht behülflich wäre!
Auch damit wies ihn der Amtmann ab. Albert, der sich endlich ins Gespräch
mischte, trat auch auf des Alten Seite. Werther wurde überstimmt, und mit
einem entsetzlichen Leiden machte er sich auf den Weg, nachdem ihm der
Amtmann einigemal gesagt hatte: “nein, er ist nicht zu retten!”
Wie sehr ihm diese Worte aufgefallen sein müssen, sehn wir aus einem
Zettelchen, das sich unter seinen Papieren fand und das gewiß an dem
nämlichen Tage geschrieben worden:
“Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! Ich sehe wohl, daß wir nicht zu
retten sind.”
Was Albert zuletzt über die Sache des Gefangenen in Gegenwart des
Amtmanns gesprochen, war Werthern höchst zuwider gewesen: er glaubte
einige Empfindlichkeit gegen sich darin bemerkt zu haben, und wenn gleich
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik