Seite - 75 - in Die Leiden des jungen Werthers
Bild der Seite - 75 -
Text der Seite - 75 -
bei mehrerem Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging, daß beide
Männer recht haben möchten, so war es ihm doch, als ob er seinem innersten
Dasein entsagen müßte, wenn er es gestehen, wenn er es zugeben sollte.
Ein Blättchen, das sich darauf bezieht, das vielleicht sein ganzes Verhältnis
zu Albert ausdrückt, finden wir unter seinen Papieren: “Was hilft es, daß ich
mir’s sage und wieder sage, er ist brav und gut, aber es zerreißt mir mein
inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht sein.”
Weil es ein gelinder Abend war und das Wetter anfing, sich zum Tauen zu
neigen, ging Lotte mit Alberten zu Fuße zurück. Unterwegs sah sie sich hier
und da um, eben als wenn sie Werthers Begleitung vermißte. Albert fing von
ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Er berührte seine unglückliche Leidenschaft und wünschte, daß es möglich
sein möchte, ihn zu entfernen.—“Ich wünsch’ es auch um unsertwillen,” sagt’
er, “und ich bitte dich,” fuhr er fort, “siehe zu, seinem Betragen gegen dich
eine andere Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern. Die
Leute werden aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da drüber
gesprochen hat.”—Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen
empfunden zu haben, wenigstens seit der Zeit erwähnte er Werthers nicht
mehr gegen sie, und wenn sie seiner erwähnte, ließ er das Gespräch fallen
oder lenkte es woanders hin.
Der vergebliche Versuch, den Werther zur Rettung des Unglücklichen
gemacht hatte, war das letzte Auflodern der Flamme eines verlöschenden
Lichtes; er versank nur desto tiefer in Schmerz und Untätigkeit; besonders
kam er fast außer sich, als er hörte, daß man ihn vielleicht gar zum Zeugen
gegen den Menschen, der sich nun aufs Leugnen legte, auffordern könnte.
Alles was ihm Unangenehmes jeweils in seinem wirksamen Leben
begegnet war, der Verdruß bei der Gesandtschaft, alles was ihm sonst
mißlungen war, was ihn je gekränkt hatte, ging in seiner Seele auf und nieder.
Er fand sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit berechtigt, er fand sich
abgeschnitten von aller Aussicht, unfähig, irgendeine Handhabe zu ergreifen,
mit denen man die Geschäfte des gemeinen Lebens anfaßt; und so rückte er
endlich, ganz seiner wunderbaren Empfindung, Denkart und einer endlosen
Leidenschaft hingegeben, in dem ewigen Einerlei eines traurigen Umgangs
mit dem liebenswürdigen und geliebten Geschöpfe, dessen Ruhe er störte, in
seine Kräfte stürmend, sie ohne Zweck und Aussicht abarbeitend, immer
einem traurigen Ende näher.
Von seiner Verworrenheit, Leidenschaft, von seinem rastlosen Treiben und
Streben, von seiner Lebensmüde sind einige hinterlaßne Briefe die stärksten
Zeugnisse, die wir hier einrücken wollen.
75
zurück zum
Buch Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik