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Am 12. Dezember
Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen
gewesen sein müssen, von denen man glaubte, sie würden von einem bösen
Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift mich’s; es ist nicht Angst, nicht
Begier—es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen
droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! Und dann schweife ich
umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen
Jahrszeit.
Gestern abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen,
ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von
Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach eilfe rannte
ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden
Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und
Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im
Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der
schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem
Widerschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein
Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete
hinab! Hinab! Und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da
hinabzustürmen! Dahinzubrausen wie die Wellen! O!—Und den Fuß vom
Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden! —Meine
Uhr ist noch nicht ausgelaufen, ich fühle es! O Wilhelm! Wie gern hätte ich
mein Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde sie Wolken zu
zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht vielleicht dem
Eingekerkerten einmal diese Wonne zuteil?
—Und wie ich wehmütig hinabsah auf ein Plätzchen, wo ich mit Lotten
unter einer Weide geruht, auf einem heißen Spaziergange,—das war auch
überschwemmt, und kaum daß ich die Weide erkannte! Wilhelm! Und ihre
Wiesen, dachte ich, die Gegend um ihr Jagdhaus! Wie verstört jetzt vom
reißenden Strome unsere Laube! Dacht’ ich. Und der Vergangenheit
Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen ein Traum von Herden,
Wiesen und Ehrenämtern. Ich stand!—Ich schelte mich nicht, denn ich habe
Mut zu sterben.—Ich hätte—nun sitze ich hier wie ein altes Weib, das ihr
Holz von Zäunen stoppelt und ihr Brot an den Türen, um ihr hinsterbendes,
freudeloses Dasein noch einen Augenblick zu verlängern und zu erleichtern.
Am 14. Dezember
Was ist das, mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik