Seite - 78 - in Die Leiden des jungen Werthers
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reif ist. Und vierzehn Tage auf oder ab tun viel. Meiner Mutter sollst du
sagen: daĂź sie fĂĽr ihren Sohn beten soll, und daĂź ich sie um Vergebung bitte
wegen alles Verdrusses, den ich ihr gemacht habe. Das war nun mein
Schicksal, die zu betrüben, denen ich Freude schuldig war. Leb’ wohl, mein
Teuerster! Allen Segen des Himmels über dich! Leb’ wohl!”
Was in dieser Zeit in Lottens Seele vorging, wie ihre Gesinnungen gegen
ihren Mann, gegen ihren unglĂĽcklichen Freund gewesen, getrauen wir uns
kaum mit Worten auszudrĂĽcken, ob wir uns gleich davon, nach der Kenntnis
ihres Charakters, wohl einen stillen Begriff machen können, und eine schöne
weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr empfinden kann.
So viel ist gewiĂź, sie war fest bei sich entschlossen, alles zu tun, um
Werthern zu entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine herzliche,
freundschaftliche Schonung, weil sie wuĂźte, wie viel es ihm kosten, ja daĂź es
ihm beinahe unmöglich sein würde. Doch ward sie in dieser Zeit mehr
gedrängt, Ernst zu machen; es schwieg ihr Mann ganz über dies Verhältnis,
wie sie auch immer darĂĽber geschwiegen hatte, und um so mehr war ihr
angelegen, ihm durch die Tat zu beweisen, wie ihre Gesinnungen der seinigen
wert seien.
An demselben Tage, als Werther den zuletzt eingeschalteten Brief an seinen
Freund geschrieben, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er abends zu
Lotten und fand sie allein. Sie beschäftigte sich, einige Spielwerke in
Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern zum Christgeschenke
zurecht gemacht hatte. Er redete von dem VergnĂĽgen, das die Kleinen haben
wĂĽrden, und von den Zeiten, da einen die unerwartete Ă–ffnung der TĂĽr und
die Erscheinung eines aufgeputzten Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk
und äpfeln in paradiesische Entzückung setzte.—“Sie sollen,” sagte Lotte,
indem sie ihre Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, “Sie sollen auch
beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind; ein Wachsstöckchen und
noch was.”—“Und was heißen Sie geschickt sein?“rief er aus;“wie soll ich
sein? Wie kann ich sein? Beste Lotte!”—“Donnerstag abend,” sagte sie, “ist
Weihnachtsabend, da kommen die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes
das Seinige, da kommen Sie auch—aber nicht eher.”—Werther stutzte.—“Ich
bitte Sie,” fuhr sie fort, “es ist nun einmal so, ich bitte um meiner Ruhe
willen, es kann nicht, es kann nicht so bleiben.”—Er wendete seine Augen
von ihr und ging in der Stube auf und ab und murmelte das “es kann nicht so
bleiben!” zwischen den Zähnen.—Lotte, die den schrecklichen Zustand
fĂĽhlte, worein ihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch allerlei Fragen
seine Gedanken abzulenken, aber vergebens.—“Nein, Lotte,” rief er aus, “ich
werde Sie nicht wiedersehen!”—“Warum das?” versetzte sie, “Werther, Sie
können, Sie müssen uns wiedersehen, nur mäßigen Sie sich. O warum mußten
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik