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Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft fĂĽr
alles, was Sie einmal anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie,” fuhr sie fort,
indem sie ihn bei der Hand nahm, “mäßigen Sie sich! Ihr Geist, Ihre
Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen fĂĽr mannigfaltige
Ergetzungen dar! Sein Sie ein Mann, wenden Sie diese traurige
Anhänglichkeit von einem Geschöpf, das nichts tun kann als Sie
bedauern.”—Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an.—Sie hielt seine
Hand. “Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther!” sagte sie. Fühlen Sie
nicht, daĂź Sie sich betriegen, sich mit Willen zugrunde richten! Warum denn
mich, Werther? Just mich, das Eigentum eines andern? Just das? Ich fĂĽrchte,
ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen
Wunsch so reizend macht.”—Er zog seine Hand aus der ihrigen, indem er sie
mit einem starren, unwilligen Blick ansah. “Weise!” rief er, “sehr weise! Hat
vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht? Politisch! Sehr politisch!” —“Es
kann sie jeder machen,” versetzte sie drauf, “und sollte denn in der weiten
Welt kein Mädchen sein, das die Wünsche Ihres Herzens erfüllte? Gewinnen
Sie’s über sich, suchen Sie darnach, und ich schwöre Ihnen, Sie werden sie
finden; denn schon lange ängstigt mich, für Sie und uns, die Einschränkung,
in die Sie sich diese Zeit her selbst gebannt haben. Gewinnen Sie ĂĽber sich,
eine Reise wird Sie, muĂź Sie zerstreuen! Suchen Sie, finden Sie einen werten
Gegenstand Ihrer Liebe, und kehren Sie zurĂĽck, und lassen Sie uns zusammen
die Seligkeit einer wahren Freundschaft genießen.” “Das könnte man,” sagte
er mit einem kalten Lachen, “drucken lassen und allen Hofmeistern
empfehlen. Liebe Lotte! Lassen Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird
alles werden!”—“Nur das, Werther, daß Sie nicht eher kommen als
Weihnachtsabend!”—Er wollte antworten, und Albert trat in die Stube. Man
bot sich einen frostigen Guten Abend und ging verlegen im Zimmer neben
einander auf und nieder. Werther fing einen unbedeutenden Diskurs an, der
bald aus war, Albert desgleichen, der sodann seine Frau nach gewissen
Aufträgen fragte und, als er hörte, sie seien noch nicht ausgerichtet, ihr einige
Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart vorkamen. Er wollte gehen, er
konnte nicht und zauderte bis acht, da sich denn sein Unmut und Unwillen
immer vermehrte, bis der Tisch gedeckt wurde, und er Hut und Stock nahm.
Albert lud ihn zu bleiben, er aber, der nur ein unbedeutendes Kompliment zu
hören glaubte, dankte kalt dagegen und ging weg.
Er kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm leuchten wollte, das
Licht aus der Hand und ging allein in sein Zimmer, weinte laut, redete
aufgebracht mit sich selbst, ging heftig die Stube auf und ab und warf sich
endlich in seinen Kleidern aufs Bette, wo ihn der Bediente fand, der es gegen
eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob er dem Herrn die Stiefeln
ausziehen sollte, das er denn zulieĂź und dem Bedienten verbot, den andern
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik