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zum Amtmanne, den er nicht zu Hause antraf. Er ging tiefsinnig im Garten
auf und ab und schien noch zuletzt alle Schwermut der Erinnerung auf sich
häufen zu wollen.
Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an
ihm hinauf, erzählen ihm, daß, wenn morgen, und wieder morgen, und noch
ein Tag wäre, sie die Christgeschenke bei Lotten holten, und erzählten ihm
Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft versprach.—“morgen!” rief er
aus, “und wieder morgen! Und noch ein Tag!”—und küßte sie alle herzlich
und wollte sie verlassen, als ihm der Kleine noch etwas in das Ohr sagen
wollte. Der verriet ihm, die großen Brüder hätten schöne Neujahrswünsche
geschrieben, so groß! Und einen für den Papa, für Albert und Lotten einen
und auch einen für Herrn Werther; die wollten sie am Neujahrstage früh
überreichen. Das übermannte ihn, er schenkte jedem etwas, setzte sich zu
Pferde, ließ den Alten grüßen und ritt mit Tränen in den Augen davon.
Gegen fünf kam er nach Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu sehen
und es bis in die Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hieß er Bücher und
Wäsche unten in den Koffer packen und die Kleider einnähen. Darauf schrieb
er wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten Briefes an Lotten.
“Du erwartest mich nicht! Du glaubst, ich würde gehorchen und erst
Weihnachtsabend dich wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr.
Weihnachtsabend hältst du dieses Papier in deiner Hand, zitterst und benetzest
es mit deinen lieben Tränen. Ich will, ich muß! O wie wohl ist es mir, daß ich
entschlossen bin.”
Lotte war indes in einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der letzten
Unterredung mit Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen
werde, sich von ihm zu trennen, was er leiden würde, wenn er sich von ihr
entfernen sollte.
Es war wie im Vorübergehn in Alberts Gegenwart gesagt worden, daß
Werther vor Weihnachtsabend nicht wieder kommen werde, und Albert war
zu einem Beamten in der Nachbarschaft geritten, mit dem er Geschäfte
abzutun hatte, und wo er über Nacht ausbleiben mußte.
Sie saß nun allein, keins von ihren Geschwistern war um sie, sie überließ
sich ihren Gedanken, die stille über ihren Verhältnissen herumschweiften. Sie
sah sich nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue sie
kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen Ruhe, dessen Zuverlässigkeit
recht vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, daß eine wackere Frau das
Glück ihres Lebens darauf gründen sollte; sie fühlte, was er ihr und ihren
Kindern auf immer sein würde. Auf der andern Seite war ihr Werther so teuer
geworden, gleich von dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik