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sich die übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der lange dauernde
Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen
unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Alles, was sie Interessantes
fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und seine Entfernung
drohte in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu reißen, die nicht wieder ausgefüllt
werden konnte. O, hätte sie ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln
können, wie glücklich wäre sie gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer
Freundinnen verheiraten dürfen, hätte sie hoffen können, auch sein Verhältnis
gegen Albert ganz wieder herzustellen!
Sie hatte ihre Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei einer
jeglichen etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt hätte.
Über allen diesen Betrachtungen fühlte sie erst tief, ohne sich es deutlich zu
machen, daß ihr herzliches, heimliches Verlangen sei, ihn für sich zu behalten,
und sagte sich daneben, daß sie ihn nicht behalten könne, behalten dürfe; ihr
reines, schönes, sonst so leichtes und leicht sich helfendes Gemüt empfand
den Druck einer Schwermut, dem die Aussicht zum Glück verschlossen ist.
Ihr Herz war gepreßt, und eine trübe Wolke lag über ihrem Auge.
So war es halb sieben geworden, als sie Werthern die Treppe
heraufkommen hörte und seinen Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte, bald
erkannte. Wie schlug ihr Herz, und wir dürfen fast sagen zum erstenmal, bei
seiner Ankunft. Sie hätte sich gern vor ihm verleugnen lassen, und als er
hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von leidenschaftlicher Verwirrung
entgegen: “Sie haben nicht Wort gehalten.”—“Ich habe nichts versprochen”
war seine Antwort.—“So hätten Sie wenigstens meiner Bitte stattgeben
sollen,” versetzte sie, “ich bat Sie um unser beider Ruhe.”
Sie wußte nicht recht, was sie sagte, ebensowenig was sie tat, als sie nach
einigen Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein zu sein. Er legte
einige Bücher hin, die er gebracht hatte, fragte nach andern, und sie wünschte,
bald daß ihre Freundinnen kommen, bald daß sie wegbleiben möchten. Das
Mädchen kam zurück und brachte die Nachricht, daß sich beide entschuldigen
ließen.
Sie wollte das Mädchen mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen lassen;
dann besann sie sich wieder anders. Werther ging in der Stube auf und ab, sie
trat ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte nicht fließen. Sie nahm
sich zusammen und setzte sich gelassen zu Werthern, der seinen gewöhnlchen
Platz auf dem Kanapee eingenommen hatte.
“Haben Sie nichts zu lesen?” sagte sie.—Er hatte nichts.—“Da drin in
meiner Schublade,” fing sie an, “liegt Ihre Übersetzung einiger Gesänge
Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik