Seite - 83 - in Die Leiden des jungen Werthers
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zu hören; aber zeither hat sich’s nicht finden, nicht machen wollen.”—Er
lächelte, holte die Lieder, ein Schauer überfiel ihn, als er sie in die Hände
nahm, und die Augen standen ihm voll Tränen, als er hineinsah. Er setzte sich
nieder und las.
“Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst du in Westen, habst dein
strahlend Haupt aus deiner Wolke, wandelst stattlich deinen Hügel hin.
Wornach blickst du auf die Heide? Die stürmenden Winde haben sich gelegt;
von ferne kommt des Gießbachs Murmeln; rauschende Wellen spielen am
Felsen ferne; das Gesumme der Abendfliegen schwärmet übers Feld.
Wornach siehst du, schönes Licht? Aber du lächelst und gehst, freudig
umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl, ruhiger
Strahl. Erscheine, du herrliches Licht von Ossians Seele!
Und es erscheint in seiner Kraft. Ich sehe meine geschiedenen Freunde, sie
sammeln sich auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber sind.—Fingal kommt
wie eine feuchte Nebelsäule; um ihn sind seine Helden, und, siehe! Die
Barden des Gesanges: grauer Ullin! Stattlicher Ryno! Alpin, lieblicher
Sänger! Und du, sanft klagende Minona!—Wie verändert seid ihr, meine
Freunde, seit den festlichen Tagen auf Selma, da wir buhlten um die Ehre des
Gesanges, wie Frühlingslüfte den Hügel hin wechselnd beugen das schwach
lispelnde Gras.
Da trat Minona hervor in ihrer Schönheit, mit niedergeschlagenem Blick
und tränenvollem Auge, schwer floß ihr Haar im unsteten Winde, der von
dem Hügel herstieß.—Düster ward’s in der Seele der Helden, als sie die
liebliche Stimme erhob; denn oft hatten sie das Grab Salgars gesehen, oft die
finstere Wohnung der weißen Colma. Colma, verlassen auf dem Hügel, mit
der harmonischen Stimme; Salgar versprach zu kommen; aber ringsum zog
sich die Nacht. Höret Colmas Stimme, da sie auf dem Hügel allein saß.
Colma. Es ist Nacht!—Ich bin allein, verloren auf dem stürmischen Hügel.
Der Wind saust im Gebirge. Der Strom heult den Felsen hinab. Keine Hütte
schützt mich vor Regen, mich Verlaßne auf dem stürmischen Hügel. Tritt, o
Mond, aus deinen Wolken, erscheinet, Sterne der Nacht! Leite mich irgend
ein Strahl zu dem Orte, wo meine Liebe ruht von den Beschwerden der Jagd,
sein Bogen neben ihm abgespannt, seine Hunde schnobend um ihn! Aber hier
muß ich sitzen allein auf dem Felsen des verwachsenen Stroms. Der Strom
und der Sturm saust, ich höre nicht die Stimme meines Geliebten.
Warum zaudert mein Salgar? Hat er sein Wort vergessen?—Da ist der Fels
und der Baum und hier der rauschende Strom! Mit einbrechender Nacht
versprachst du hier zu sein; ach! Wohin hat sich mein Salgar verirrt? Mit dir
wollt’ ich fliehen, verlassen Vater und Bruder, die stolzen! Lange sind unsere
Geschlechter Feinde, aber wir sind keine Feinde, o Salgar!
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik