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Schweig eine Weile, o Wind! Still eine kleine Weile, o Strom, daĂź meine
Stimme klinge durchs Tal, daß mein Wanderer mich höre. Salgar! Ich bin’s,
die ruft! Hier ist der Baum und der Fels! Salgar! Mein Lieber! Hier bin ich;
warum zauderst du zu kommen?
Sieh, der Mond erscheint, die Flut glänzt im Tale, die Felsen stehen grau
den Hügel hinauf; aber ich seh’ ihn nicht auf der Höhe, seine Hunde vor ihm
her verkĂĽndigen nicht seine Ankunft. Hier muĂź ich sitzen allein.
Aber wer sind, die dort unten liegen auf der Heide?—Mein Geliebter?
Mein Bruder?—Redet, o meine Freunde! Sie antworten nicht. Wie geängstigt
ist meine Seele!—Ach sie sind tot! Ihre Schwester rot vom Gefechte! O mein
Bruder, mein Bruder, warum hast du meinen Salgar erschlagen? O mein
Salgar, warum hast du meinen Bruder erschlagen? Ihr wart mir beide so lieb!
O du warst schön an dem Hügel unter Tausenden! Es war schrecklich in der
Schlacht. Antwortet mir! Hört meine Stimme, meine Geliebten! Aber ach, sie
sind stumm, stumm auf ewig! Kalt wie die Erde ist ihr Busen!
O von dem Felsen des HĂĽgels, von dem Gipfel des stĂĽrmenden Berges,
redet, Geister der Toten! Redet! Mir soll es nicht grausen!—Wohin seid ihr
zur Ruhe gegangen? In welcher Gruft des Gebirges soll ich euch finden?—
Keine schwache Stimme vernehme ich im Winde, keine wehende Antwort im
Sturme des HĂĽgels. Ich sitze in meinem Jammer, ich harre auf den Morgen in
meinen Tränen. Wühlet das Grab, ihr Freunde der Toten, aber schließt es
nicht, bis ich komme. Mein Leben schwindet wie ein Traum; wie sollt’ ich
zurückbleiben! Hier will ich {… Felsens—wenn’s Nacht wird auf dem Hügel,
und Wind kommt ĂĽber die Heide, soll mein Geist im Winde stehn und trauern
den Tod meiner Freunde. Der Jäger hört mich aus seiner Laube, fürchtet
meine Stimme und liebt sie; denn sĂĽĂź soll meine Stimme sein um meine
Freunde, sie waren mir beide so lieb!
Das war dein Gesang, o Minona, Tormans sanft errötende Tochter. Unsere
Tränen flossen um Colma, und unsere Seele ward düster.
Ullin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins Gesang—Alpins Stimme
war freundlich, Rynos Seele ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten sie im engen
Hause, und ihre Stimme war verhallet in Selma. Einst kehrte Ullin zurĂĽck von
der Jagd, ehe die Helden noch fielen. Er hörte ihren Wettegesang auf dem
HĂĽgel. Ihr Lied war sanft, aber traurig. Sie klagten Morars Fall, des ersten der
Helden. Seine Seele war wie Fingals Seele, sein Schwert wie das Schwert
Oskars—aber er fiel, und sein Vater jammerte, und seiner Schwester Augen
waren voll Tränen, Minonas Augen waren voll Tränen, der Schwester des
herrlichen Morars. Sie trat zurĂĽck vor Ullins Gesang, wie der Mond in
Westen, der den Sturmregen voraussieht und sein schönes Haupt in eine
Wolke verbirgt.—Ich schlug die Harfe mit Ullin zum Gesange des Jammers.
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik