Seite - 89 - in Die Leiden des jungen Werthers
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“Zum letztenmale denn, zum letztenmale schlage ich diese Augen auf. Sie
sollen, ach, die Sonne nicht mehr sehn, ein trüber, neblichter Tag hält sie
bedeckt. So traure denn, Natur! Dein Sohn, dein Freund, dein Geliebter naht
sich seinem Ende. Lotte, das ist ein GefĂĽhl ohnegleichen, und doch kommt es
dem dämmernden Traum am nächsten, zu sich zu sagen: das ist der letzte
Morgen. Der letzte! Lotte, ich habe keinen Sinn fĂĽr das Wort: der letzte! Stehe
ich nicht da in meiner ganzen Kraft, und morgen liege ich ausgestreckt und
schlaff am Boden. Sterben! Was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom
Tode reden. Ich habe manchen sterben sehen; aber so eingeschränkt ist die
Menschheit, daĂź sie fĂĽr ihres Daseins Anfang und Ende keinen Sinn hat. Jetzt
noch mein, dein! Dein, o Geliebte! Und einen Augenblick—getrennt,
geschieden—vielleicht auf ewig?—Nein, Lotte, nein—wie kann ich
vergehen? Wie kannst du vergehen? Wir sind ja! —vergehen!—Was heißt
das? Das ist wieder ein Wort, ein leerer Schall, ohne Gefühl für mein Herz.—
Tot, Lotte! Eingescharrt der kalten Erde, so eng! So finster!—Ich hatte eine
Freundin, die mein alles war meiner hĂĽlflosen Jugend; sie starb, und ich
folgte ihrer Leiche und stand an dem Grabe, wie sie den Sarg hinunterlieĂźen
und die Seile schnurrend unter ihm weg und wieder herauf schnellten, dann
die erste Schaufel hinunterschollerte, und die ängstliche Lade einen dumpfen
Ton wiedergab, und dumpfer und immer dumpfer, und endlich bedeckt war!
—Ich stürzte neben das Grab hin—ergriffen, erschüttert, geängstigt, zerrissen
mein Innerstes, aber ich wußte nicht, wie mir geschah—wie mir geschehen
wird—Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!
O vergib mir! Vergib mir! Gestern! Es hätte der letzte Augenblick meines
Lebens sein sollen. O du Engel! Zum ersten Male, zum ersten Male ganz ohne
Zweifel durch mein innig Innerstes durchglĂĽhte mich das WonnegefĂĽhl: sie
liebt mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige
Feuer, das von den deinigen strömte, neue, warme Wonne ist in meinem
Herzen. Vergib mir! Vergib mir!
Ach, ich wuĂźte, daĂź du mich liebtest, wuĂźte es an den ersten seelenvollen
Blicken, an dem ersten Händedruck, und doch, wenn ich wieder weg war,
wenn ich Alberten an deiner Seite sah, verzagte ich wieder in fieberhaften
Zweifeln.
Erinnerst du dich der Blumen, die du mir schicktest, als du in jener fatalen
Gesellschaft mir kein Wort sagen, keine Hand reichen konntest? O, ich habe
die halbe Nacht davor gekniet, und sie versiegelten mir deine Liebe. Aber
ach! Diese EindrĂĽcke gingen vorĂĽber, wie das GefĂĽhl der Gnade seines
Gottes allmählich wieder aus der Seele des Gläubigen weicht, die ihm mit
ganzer HimmelsfĂĽlle in heiligen, sichtbaren Zeichen gereicht ward.
Alles das ist vergänglich, aber keine Ewigkeit soll das glühende Leben
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik