Seite - 90 - in Die Leiden des jungen Werthers
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auslöschen, das ich gestern auf deinen Lippen genoß, das ich in mir fühle! Sie
liebt mich! Dieser Arm hat sie umfaßt, diese Lippen haben auf ihren Lippen
gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen gestammelt. Sie ist mein! Du bist
mein! Ja, Lotte, auf ewig.
Und was ist das, daß Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für diese
Welt—und für diese Welt Sünde, daß ich dich liebe, daß ich dich aus seinen
Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut, und ich strafe mich
dafür; ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt, diese Sünde,
habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz gesaugt. Du bist von diesem
Augenblicke mein! Mein, o Lotte! Ich gehe voran! Gehe zu meinem Vater, zu
deinem Vater. Dem will ich’s klagen, und er wird mich trösten, bis du
kommst, und ich fliege dir entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem
Angesichte des Unendlichen in ewigen Umarmungen.
Ich träume nicht, ich wähne nicht! Nahe am Grabe wird mir es heller. Wir
werden sein! Wir werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen! Ich werde
sie sehen, werde sie finden, ach, und vor ihr mein ganzes Herz ausschütten!
Deine Mutter, dein Ebenbild.”
Gegen eilfe fragte Werther seinen Bedienten, ob wohl Albert
zurückgekommen sei? Der Bediente sagte: ja, er habe dessen Pferd
dahinführen sehen. Darauf gibt ihm der Herr ein offenes Zettelchen des
Inhalts: “Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen
leihen? Leben Sie recht wohl!”
Die liebe Frau hatte die letzte Nacht wenig geschlafen; was sie gefürchtet
hatte, war entschieden, auf eine Weise entschieden, die sie weder ahnen noch
fürchten konnte. Ihr sonst so rein und leicht fließendes Blut war in einer
fieberhaften Empörung, tausenderlei Mepfindungen zerrütteten das schöne
Herz. War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie in ihrem Busen
fühlte? War es Unwille über seine Verwegenheit? War es eine unmutige
Vergleichung ihres gegenwärtigen Zustandes mit jenen Tagen ganz
unbefangener, freier Unschuld und sorglosen Zutrauens an sich selbst? Wie
sollte sie ihrem Manne entgegengehen, wie ihm eine Szene bekennen, die sie
so gut gestehen durfte, und die sie sich doch zu gestehen nicht getraute? Sie
hatten so lange gegen einander geschwiegen, und sollte sie die erste sein, die
das Stillschweigen bräche und eben zur unrechten Zeit ihrem Gatten eine so
unerwartete Entdeckung machte? Schon fürchtete sie, die bloße Nachricht
von Werthers Besuch werde ihm einen unangenehmen Eindruck machen, und
nun gar diese unerwartete Katastrophe! Konnte sie wohl hoffen, daß ihr Mann
sie ganz im rechten Lichte sehen, ganz ohne Vorurteil aufnehmen würde? Und
konnte sie wünschen, daß er in ihrer Seele lesen möchte? Und doch wieder,
konnte sie sich verstellen gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik