Seite - 92 - in Die Leiden des jungen Werthers
Bild der Seite - 92 -
Text der Seite - 92 -
erbrechen und zu lesen. Einige schienen nicht das Angenehmste zu enthalten.
Sie tat einige Fragen an ihn, die er kurz beantwortete, und sich an den Pult
stellte, zu schreiben.
Sie waren auf diese Weise eine Stunde nebeneinander gewesen, und es
ward immer dunkler in Lottens Gemüt. Sie fühlte, wie schwer es ihr werden
würde, ihrem Mann, auch wenn er bei dem besten Humor wäre, das zu
entdecken, was ihr auf dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut, die ihr um
desto ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Tränen zu
verschlucken suchte.
Die Erscheinung von Werthers Knaben setzte sie in die größte
Verlegenheit; er überreichte Alberten das Zettelchen, der sich gelassen nach
seiner Frau wendete und sagte: “gib ihm die Pistolen.” —“Ich lasse ihm
glückliche Reise wünschen.” sagte er zum Jungen. —Das fiel auf sie wie ein
Donnerschlag, sie schwankte aufzustehen, sie wußte nicht, wie ihr geschah.
Langsam ging sie nach der Wand, zitternd nahm sie das Gewehr herunter,
putzte den Staub ab und zauderte, und hätte noch lange gezögert, wenn nicht
Albert durch einen fragenden Blick sie gedrängt hätte. Sie gab das
unglückliche Werkzeug dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können,
und als der zum Hause hinaus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in
ihr Zimmer, in dem Zustande der unaussprechlichsten Ungewißheit. Ihr Herz
weissagte ihr alle Schrecknisse. Bald war sie im Begriffe, sich zu den Füßen
ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdecken, die Geschichte des gestrigen
Abends, ihre Schuld und ihre Ahnungen. Dann sah sie wieder keinen
Ausgang des Unternehmens, am wenigsten konnte sie hoffen, ihren Mann zu
einem Gange nach Werthern zu bereden. Der Tisch ward gedeckt, und eine
gute Freundin, die nur etwas zu fragen kam, gleich gehen wollte—und blieb,
machte die Unterhaltung bei Tische erträglich; man zwang sich, man redete,
man erzählte, man vergaß sich.
Der Knabe kam mit den Pistolen zu Werthern, der sie ihm mit Entzücken
abnahm, als er hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er ließ sich Brot und Wein
bringen, hieß den Knaben zu Tische gehen und setzte sich nieder, zu
schreiben.
“Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt,
ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist des Himmels,
begünstigst meinen Entschluß, und du, Lotte, reichst mir das Werkzeug, du,
von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte, und ach! Nun
empfange. O ich habe meinen Jungen ausgefragt. Du zittertest, als du sie ihm
reichtest, du sagtest kein Lebewohl! —Wehe! Wehe! Kein Lebewohl!—
solltest du dein Herz für mich verschlossen haben, um des Augenblicks
willen, der mich ewig an dich befestigte? Lotte, kein Jahrtausend vermag den
92
zurück zum
Buch Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik