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Eindruck auszulöschen! Und ich fühle es, du kannst den nicht hassen, der so
für dich glüht.”
Nach Tische hieß er den Knaben alles vollends einpacken, zerriß viele
Papiere, ging aus und brachte noch kleine Schulden in Ordnung. Er kam
wieder nach Hause, ging wieder aus vors Tor, ungeachtet des Regens, in den
gräflichen Garten, schweifte weiter in der Gegend umher und kam mit
anbrechender Nacht zurück und schrieb.
“Wilhelm, ich habe zum letzten Male Feld und Wald und den Himmel
gesehen. Leb wohl auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie, Wilhelm!
Gott segne euch! Meine Sachen sind alle in Ordnung. Lebt wohl! Wir sehen
uns wieder und freudiger.”
“Ich habe dir Übel gelohnt, Albert, und du vergibst mir. Ich habe den
Frieden deines Hauses gestört, ich habe Mißtrauen zwischen euch gebracht.
Lebe wohl! Ich will es enden. O daß ihr glücklich wäret durch meinen Tod!
Albert! Albert! Mache den Engel glücklich! Und so wohne Gottes Segen über
dir!”
Er kannte den Abend noch viel in seinen Papieren, zerriß vieles und warf es
in den Ofen, versiegelte einige Päcke mit den Adressen an Wilhelm. Sie
enthielten kleine Aufsätze, abgerissene Gedanken, deren ich verschiedene
gesehen habe; und nachdem er um zehn Uhr Feuer hatte nachlegen und sich
eine Flasche Wein geben lassen, schickte er den Bedienten, dessen Kammer
wie auch die Schlafzimmer der Hausleute weit hinten hinaus waren, zu Bette,
der sich dann in seinen Kleidern niederlegte, um frühe bei der Hand zu sein;
denn sein Herr hatte gesagt, die Postpferde würden vor sechse vors Haus
kommen.
Nach Eilfe
Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke dir, Gott,
der du diesen letzten Augenblicken diese Wärme, diese Kraft schenkest.
Ich trete an das Fenster, meine Beste, und sehe, und sehe noch durch die
stürmenden, vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des ewigen Himmels!
Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und
mich. Ich sehe die Deichselsterne des Wagens, des liebsten unter allen
Gestirnen. Wenn ich nachts von dir ging, wie ich aus deinem Tore trat, stand
er gegen mir über. Mit welcher Trunkenheit habe ich ihn oft angesehen, oft
mit aufgehabenen Händen ihn zum Zeichen, zum heiligen Merksteine meiner
gegenwärtigen Seligkeit gemacht! Und noch—o Lotte, was erinnert mich
nicht an dich! Umgibst du mich nicht! Und habe ich nicht, gleich einem
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik