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Kinde, ungenügsam allerlei Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige
berührt hattest!
Liebes Schattenbild! Ich vermache dir es zurück, Lotte, und bitte dich, es
zu ehren. Tausend, tausend Küsse habe ich darauf gedrückt, tausend Grüße
ihm zugewinkt, wenn ich ausging oder nach Hause kam. Ich habe deinen
Vater in einem Zettelchen gebeten, meine Leiche zu schützen. Auf dem
Kirchhofe sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu;
dort wünsche ich zu ruhen. Er kann, er wird das für seinen Freund tun. Bitte
ihn auch. Ich will frommen Christen nicht zumuten, ihren Körper neben einen
armen Unglücklichen zu legen. Ach, ich wollte, ihr begrübt mich am Wege,
oder im einsamen Tale, daß Priester und Levit vor dem bezeichneten Steine
sich segnend vorübergingen und der Samariter eine Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen,
aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, und
zage nicht. All! All! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines
Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.
Daß ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben!
Lotte, für dich mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben,
wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wiederschaffen könnte.
Aber ach! Das ward nur wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu
vergießen und durch ihren Tod ein neues, hundertfältiges Leben ihren
Freunden anzufachen.
In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt,
geheiligt; ich habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine Seele schwebt
über dem Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen. Diese blaßrote
Schleife, die du am Busen hattest, als ich dich zum ersten Male unter deinen
Kindern fand—o küsse sie tausendmal und erzähle ihnen das Schicksal ihres
unglücklichen Freundes. Die Lieben! Sie wimmeln um mich. Ach wie ich
mich an dich schloß! Seit dem ersten Augenblicke dich nicht lassen konnte!—
Diese Schleife soll mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage
schenktest du sie mir! Wie ich das alles verschlang!—Ach, ich dachte nicht,
daß mich der Weg hierher führen sollte!—Sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!
—Sie sind geladen—es schlägt zwölfe! So sei es denn!—Lotte! Lotte, lebe
wohl! Lebe wohl!”
Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da aber
alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet
seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an; keine
Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte
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Die Leiden des jungen Werthers
- Titel
- Die Leiden des jungen Werthers
- Autor
- Johann Wolfgang von Goethe
- Datum
- 1774
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 95
- Kategorien
- Weiteres Belletristik