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Lernen, als eine mögliche transformative Erfahrung der Ermächtigung, verän-
dert und bereichert die Selbst- und Weltreferenzen einer Person. Nach Stoja-
nov (2006), der sich dabei auf Marotzki (1990) bezieht, unterscheidet sich Bil-
dung als Transformation des Selbst- und Weltverständnisses von einem Ler-
nen, welches eine „Anreicherung der Selbst- und der Weltreferenzen des Ein-
zelnen bedeute“ (ebd.: 45). Jedoch impliziert die Herstellung eines Welt-Be-
zugs, wie es beim Lernen gegeben ist, immer auch die Überschreitung dieses
Bezugs (ebd.: 46). Lernen als transformative Erfahrung geht von einem dialo-
gischen In-Kontakt-Treten von Mensch und Welt aus, bei der sich Mensch und
Welt durch die Beziehung und die reflexive Deutung dieser Beziehung verän-
dern. Die Möglichkeit des/der Einzelnen, sich mit sich selbst auseinanderzu-
setzen und zu wandeln, geht von einer Offenheit und einem Entgegensetzen
(im Sinne eines Hinauswachsens) des eigenen Welthorizontes aus (vgl. ebd.:
46ff.). Koller (2007) sieht dies entscheidend für ein prozesshaftes Bildungs-
verständnis, das ein „responsives Geschehen“ eines Subjekts darstellt, das auf
einen Anspruch antwortet, einen Prozess „zwischen dem Ich und dem Ande-
ren“ (ebd.: 71f.). Der Prozess liegt zwischen den Ansprüchen der Welt, die auf
die gegebenen Ordnungen einwirken, und den Antworten und Neuordnungen,
die sich durch diese Ansprüche ergeben. So kommt der „Anspruch für Trans-
formationen stets von anderswoher“ (ebd.: 72).
Wieder zeigt sich die Bedingung des Wagnisses als dem Lernprozess ein-
gewoben. Für Meyer-Drawe (2010) ist Lernen „eine Verwicklung mit Welt, in
der wir stets riskieren, uns, die Sache sowie unsere Beziehung zum anderen
umstrukturieren zu müssen“ (ebd.: 15). Der Mensch als Gewohnheitstier ist
„Widerfahrnissen ausgesetzt“ (ebd.: 15) und hat so die Aufgabe, ihren/seinen
Deutungsraum neu zu strukturieren. Dieses Lernen als Erfahrung, „meint dann
insbesondere das Eröffnen eines neuen Horizonts“ (ebd.: 15). Bezogen auf
Buck und Prange beschreibt Fuhr (2018) das Lernen von etwas Neuem, das
noch fremd ist, als Erwartung und Enttäuschung. Denn einerseits haben Men-
schen ein Vorverständnis, mit dem sie versuchen ihre Erfahrungen, sich selbst
und die Welt zu verstehen, und andererseits werden diese Vorerfahrungen und
Erwartungen durch neue Ansprüche enttäuscht. So sind wir gefordert, umzu-
denken, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben (vgl. ebd.: 86f.). Erst
das reflexive Zurückgehen auf die gemachte Erfahrung (Buck 1989: 3) und die
dadurch erfolgte Brechung der Erwartungen ermöglichen einen „Wandel der
Einstellung“ (ebd.: 47) und damit überhaupt erst ein transformatives Lernen.
Bildungsprozessen liegt damit ein paradoxes Spannungsverhältnis zwi-
schen Beharren und Überschreiten zugrunde: Alles neue Wissen, alle neue Er-
fahrung geht – mit Rückgriffen auf Aristoteles – immer von Vorwissen und
Vorerfahrungen aus, sodass „wir schon wissen müssen, um zu lernen, als auch,
dass wir gerade insofern auch nicht wissen, als wir ja lernen“ (ebd.: 31). Die
Herausforderung für das lernende Subjekt besteht darin, dass die bis dato er-
worbenen Wissens- und Erfahrungsbestände einerseits nötig sind, zugleich
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Buch Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Titel
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Untertitel
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Autoren
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Herausgeber
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Abmessungen
- 14.7 x 21.0 cm
- Seiten
- 190
- Kategorie
- Lehrbücher