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– wie oben dargelegt – mit der Welt im ständigen Austausch, weder nur auto-
nom noch nur abhängig, sondern indem wir auf Anforderungen und Anrufun-
gen aus der Welt antworten, erfahren wir uns selbst, die Welt und die anderen.
Die Haltung der Empfänglichkeit (Meyer-Drawe 2018: 39) gewinnt in ei-
nem solchen Verstehensprozess auch eine methodische Bedeutung: Sie wird
zu einer Forschungshaltung, die nicht distanzierte Beobachtung oder Messung
(und in der Folge Steuerbarkeit) von Lernprozessen beansprucht, sondern sich
der Miterfahrung der Welt und der Anderen öffnet und sich davon affizieren
lässt. Dies ermöglicht es, nicht nur das zu sehen und zu hören, was im For-
schungsprozess geplant war, sondern sich von dem überraschen zu lassen,
„was aus der Reihe springt“ (Waldenfels 2004: 33). Erst das „Sich-Einlassen
auf das, was geschieht und sich im Raum vollzieht, ermöglicht jenes Miterfah-
ren von Erfahrungen“ (Peterlini 2016b: 23), das für die nachfolgend dargelegte
Vignettenforschung grundlegend ist. Die „teilnehmende Erfahrung“, mit der
sich Beekman (1987: 16) von der teilnehmenden Beobachtung (die noch Dis-
tanz wahrt) abgegrenzt hatte, wird zu einer „miterfahrenen Erfahrung“ (Peter-
lini 2016b: 23) weiterentwickelt.
Meyer-Drawe (2012b) beschreibt die Vignette als eine „differenzierte Be-
schreibung einer Szene“ (ebd.: 13), als einen Versuch, Momente gelebter Er-
fahrungen zu erfassen, unter Berücksichtigung, dass die Erfahrung des For-
schenden eine entscheidende Rolle in der Auswahl und Darstellung spielt. Die
Vignette ist eine verdichtete Beschreibung und „keine unmittelbare Interpreta-
tion“ (ebd.: 14). Sie ist der Versuch, nicht nur sprachliche Aussagen, sondern
auch „sinnliche Beteiligung“ (ebd.), widerzuspiegeln. Eine gelungene Vignette
spricht die „leibliche Responsivität“ (ebd.) an. Kennzeichnend für die Vignet-
tenforschung ist ihr Bemühen um sprachliche Prägnanz (vgl. Agostini et al.
2017), auch im Sinne von „pregnant“, also trächtig mit jenen Momenten, von
denen die Wahrnehmung affiziert, die Empfänglichkeit angerufen wurde. Die
sprachliche Verdichtung der Miterfahrung in der Vignette birgt einen Über-
schuss an Bedeutung, der für Lesende der Vignette die „erlebten Situationen
neu erfahrbar machen“ lässt (ebd.: 338), allerdings nicht in einer rekonstruie-
renden und engführenden Perspektive, sondern im Sinne einer pluriperspekti-
vischen Ausfaltung und Konstruktion von Sinn. In der Lektüre, als Deutungs-
methode der Vignette, wird versucht „dieses Mehr“ (ebd.: 339) fruchtbar zu
machen. Die in der Vignette verdichteten Erfahrungen werden „von ihrem kon-
kreten Vollzug her im Modus des Etwas-als-Etwas zu beschreiben“ (ebd.) ge-
deutet. In der Lektüre einer Vignette wird nicht die Wahrheit hinter dem Text
gesucht, sondern wird versucht, an der verdichteten Beschreibung mögliche
Bedeutungen auszuloten und an diesen etwas für übergeordnete Fragestellun-
gen zu lernen. Die Bedeutungen der Vignette liegen zwischen der/dem Erfah-
renden und dem erscheinenden Gegenstand (ebd.). „Diese Genesis von Sinn
im Zwischen von Erfahrendem und erfahrenem Gegenstand im Wie der Erfah-
rung in Worte zu kleiden, ist das Anliegen der Lektüre.“ (Agostini 2016: 56)
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Buch Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Titel
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Untertitel
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Autoren
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Herausgeber
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Abmessungen
- 14.7 x 21.0 cm
- Seiten
- 190
- Kategorie
- Lehrbücher