Seite - 74 - in Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Bild der Seite - 74 -
Text der Seite - 74 -
74
Vignette „I can also draw“
Im Englisch-Unterricht an einer Höheren Schule in einer Klasse Jugendlicher
mit Fluchterfahrung entstand diese Vignette:
Frau Huber1kommt in die Klasse für den Englischunterricht. Es ist unruhig in der
Klasse, einige Jugendliche bewegen sich und sprechen miteinander. Nasir erklärt Frau
Huber, dass sie keine Pause hatten. Daraufhin teilt Frau Huber mit, dass es nun fünf
Minuten Pause gibt. Nach der Pause fragt Frau Huber, wer die letzte Unterrichtsein-
heit in Englisch wiederholen kann. Tamir streckt rasch seine Hand in die Höhe, und
Frau Huber fragt mit freudiger Stimme: „Tamir, what can you do at school?“ Tamir
atmet tief ein und antwortet mit zügigen Worten: „Reading, writing, drawing.“ Frau
Huber fragt mit erwartungsvoller Stimme: „And can you draw, Tamir?“ Tamir grinst
und antwortet: „I can draw very good.“ Frau Huber nickt, lächelt und bestätigt:„True,
I saw some of your beautiful pictures.” Da meldet sich Shakir mit lauter und bestimmter
Stimme: „I can also draw.“ Frau Huber lächelt und spricht mit freudiger Stimme: „Re-
ally, do you have pictures?“ Shakir strahlt über das ganze Gesicht und sagt: „Yes, on
my phone.“ Frau Huber antwortet ihm: „Would you like to show them?“ Da strahlt
Shakir noch mehr und mit weichem Gesicht sagt er: „Yes“. Frau Huber geht zu Shakir,
und er zeigt ihr seine Bilder auf seinem Handy. Dabei nickt Frau Huber zustimmend
und sagt: „So beautiful.“ Shakir lächelt. Frau Huber fragt ihn: „Do you want to show
them to the class, Shakir?” Shakir bejaht mit einem Nicken. Einige der Schülerinnen
und Schüler kommen zu ihm und sehen sich die Bilder auf seinem Handy an. Shakir
lächelt und strahlt.
Vignettenlektüre: Anerkennung als Sichtbarwerden
Etwas, das sich in dieser Vignette zeigt, ist die bestimmte Stimme von Shakir
im Raum, sein geglückter Versuch, etwas von sich zu zeigen, sichtbar zu wer-
den, in Beziehung zu treten mit der Welt, und sein Lachen und Strahlen im
Moment der Anerkennung und Befürwortung. Interessant ist, dass er sich auf
die Anerkennung hin meldet, die Frau Huber zunächst Tamir gegenüber für
dessen Zeichnungen ausgesprochen hatte – ein Hinweis auf die intersubjektive
Anerkennung und die Bedeutung einer Atmosphäre der Anerkennung, die in
dieser Schulstunde sichtbar wird in Lachen und Strahlen. Anerkennung
schließt im Lateinischen an drei Begriffe an, von denen jeder für sich Nuancen
eines Anerkennungsprozesses anklingen lässt: ‚agnitio‘ (Anerkennung im
Sinne der Anerkenntnis von etwas), ‚apperceptio‘ (Anerkennen im Sinne von
Wahrnehmung und Auffassung) und ‚approbatio‘ (Anerkennen im Sinne der
1 Alle Namen geändert.
zurück zum
Buch Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Titel
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Untertitel
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Autoren
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Herausgeber
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Abmessungen
- 14.7 x 21.0 cm
- Seiten
- 190
- Kategorie
- Lehrbücher