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Wie werden wir regiert? Wie funktioniert die „Regierung der Lebenden“?
Diese Frage stellte Michel Foucault in seiner Vorlesung am Collège de
France im Frühjahr 1980 (Foucault 2014). Es ging dabei nicht um Fragen
von Regierungsformen und Regierungstechniken im Sinne institutionali-
sierter politischer Herrschaft, sondern grundlegender um die Frage, wie
das Verhalten von Individuen und Kollektiven in der entwickelten Moderne
gesteuert wird.
Bei der Beantwortung dieser Frage nimmt das antike Christentum bei Fou-
cault einen entscheidenden, weil extrem folgenreichen und wirkmächtigen
Platz ein. Denn das Christentum brachte, so Foucault, nicht nur eine völlig
neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte, sondern auch eine völ-
lig neue Form religiöser Organisation und mit ihr eine ganz neue Form der
Machtausübung und der Steuerung des Einzelnen.
Als „einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat […], vertritt
das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen
Eigen art befähigt seien, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen,
Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw., sondern
als Pastoren. Dieses Wort bezeichnet jedenfalls eine ganz eigentümliche
Form von Macht“ (Foucault 1987, 248).
Foucault nennt sie denn auch Pastoralmacht (vgl. Foucault 1987; Foucault
1994).
Die christliche Pastoralmacht hat einige Eigenschaften, die sie von den
bis dahin bekannten Machtformen unterscheidet. Sie ist selbstlos im Un-
terschied zur Königsmacht, die andere für sich sterben lässt. Sie ist indi-
vidualisierend im Kontrast zur juridischen Macht, die an Fällen, nicht am
Einzelnen interessiert ist, und sie ist totalisierend im Unterschied zur anti-
ken Machtausübung, die sich nur für spezifischen, nicht für umfassenden
Gehorsam bis in Intimstes interessiert. Die neue christliche Pastoralmacht
bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das ganze Leben.
Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben
einzusetzen für die Schafe, ein Hirte, der jedes einzelne Schaf im Auge ha-
ben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem seiner
Schafe interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht min-
destens so wichtig wie der Altar. Das Wissen des Hirten über jedes seiner
Schafe lässt seine Macht groß, invasiv und folgenreich werden, potentiell
wirksam in jedem Augenblick. Der Hirte behütet die Einzelnen nicht nur, er
Rainer Bucher | Die aktuelle Logik der Welt
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven