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42 | www.limina-graz.eu Dem radikalen, alles durchdringenden Anti-Essentialismus des Kapitalismus
kann man in einem politischen Willensakt im öffentlichen Bereich rechtliche
Normativitäten entgegensetzen. In funktionierenden Demokratien geschieht
dies, indem menschenrechtbasierte Grundrechtskataloge außer Streit gestellt
werden, was nicht verhindert, dass sie schleichend erodieren können. Funk-
tionierende Demokratien sozialisieren zudem in ihrem Sozial- und Steuer-
system relevante Teile der Wertschöpfung und regulieren durch diverse Stra-
tegien der Gewaltenteilung und Installation partizipativer Verfahren die Macht
kapitalistischer Akteure mehr oder weniger erfolgreich.
Was aber kann dem radikalen Anti-Essentialismus des Kapitalismus im perso-
nalen Bereich entgegengesetzt werden, was seine verführerische Subjektivie-
rungskraft zumindest irritieren, dort, wo er sich in die Subjektivierungsmecha-
nismen des Einzelnen einschleicht, dort, wo er mithin als kulturell hegemoni-
aler Kapitalismus die individuellen Lebensformen dominiert? Wo führt ein Weg
nicht in die Affirmation kapitalistischer Lebensformen und auch nicht in die
Sackgasse der utopischen Hoffnung, dem anti-essentialistischen Universalis-
mus des kulturell hegemonialen Kapitalismus, der sich alles angleicht, mittels
revolutionären Umbruchs „nach hinten“ oder „nach vorne“ zu entkommen?
Michel de Certeau hat in der „Kunst des Handelns“ (1988) eine analoge und
zudem kontextverwandte Konstellation im Zusammenhang des Konsum-
verhaltens von Verbrauchern analysiert, Verbrauchern, die, wie Certeau
schreibt, „angeblich zu Passivität und Anpassung verurteilt sind.“ (Certeau
1988, 11) Die naheliegenden Auswege, die Verbraucher als starke Individuen zu
betrachten und an sie zu appellieren, aus dieser Stärke heraus ihren „Status als
Beherrschte[…]“ (Certeau 1988, 11) einfach abzustreifen, oder sie klassisch mar-
xistisch aufzufordern, den universalen Verblendungszusammenhang des Kapi-
talismus zu zerreißen, verbietet sich Certeau. Solch eine starke Größe ist der
Einzelne nicht, vielmehr ein „Ort […], an dem eine inkohärente (und oft wider-
sprüchliche) Vielzahl von Größen aufeinandertrifft“ (Certeau 1988, 11). Es geht
also um „Vorgehensweisen und Handlungsmuster und nicht direkt um das Sub-
jekt, das Urheber oder Träger derselben ist.“ (Certeau 1988, 11f.) Das heißt aber
nicht, dass die Individuen wehrlos seien, ihnen steht vielmehr eine „operative
Logik“ von „Finten“ und „Listen“ zur Verfügung, „die überall von der heute
in der westlichen Welt vorherrschenden Rationalität verdeckt wird.“ (Certeau
1988, 12) Hilflos ausgeliefert ist das Individuum also nicht.
Was kann dem radikalen Anti-Essentialismus des Kapitalismus
im personalen Bereich entgegengesetzt werden?
Rainer Bucher | Die aktuelle Logik der Welt
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven