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58 | www.limina-graz.eu tonomisierung solcher Rituale bedeutet also nicht ihre individuelle Erfin-
dung, sondern die freiwillige Eingliederung in eine Tradition oder die selbst
gewählte Komposition von Elementen aus verschiedenen Traditionen.
3. Motive neuer ritueller Handlungsformen
Nicht wenige traditionelle Rituale der Kirche befinden sich in einer Krise.
Eines davon ist die Beichte. Für Italien zum Beispiel beobachtet Franco
Garelli „Più che la communione, il sacramento che più appare in crisi è
quello della confessione“ (Garelli 2011, 65). Von 86,1 Prozent der Italie-
nerInnen, die sagen, dass sie katholisch sind, gehen 28,3 Prozent nie zur
Beichte (Garelli 2001, 66). Gleichzeitig kann man aber im säkularen Bereich
neue Formen von Ritualen beobachten, die anscheinend ähnliche Funk-
tionen übernehmen wie die Beichte. Fastenwochen beinhalten solche Ritu-
ale, besonders im Zusammenhang mit der sogenannten Darmreinigung,
die im Rahmen des Fastens etwa nach der Buchinger-Lützner-Methode
praktiziert wird (Lützner 2013). Diese Reinigung bezweckt nicht nur den
Körper zu entgiften, sondern auch den Geist und die Seele. Die AkteurInnen
können sie selbständig und freiwillig durchführen und haben also einen
direkten Zugang dazu. Die Darmreinigung wird von den Fastenden jeden
Tag oder jeden zweiten Tag durchgeführt, um eine sogenannte „Rückgif-
tung“ durch Giftstoffe, die im Darm bleiben würden, zu vermeiden. Die
medizinische Rechtfertigung ist umstritten, was zeigt, dass der Grund für
ihre Durchführung nicht nur in einer gesundheitlichen Motivation liegt. Es
geht vielmehr um eine umfassende Reinigung, die auch eine spirituelle Di-
mension besitzt. Eine Teilnehmerin einer Fastenwoche bezeichnete sie als
„rituelle Reinigung“.
Dass wir es tatsächlich mit der Form eines Rituals zu tun haben, zeigt die
Beschreibung der Methode sehr deutlich. Die Fastencoachs und die Fas-
tenhandbücher empfehlen, ein gemütliches Ambiente mit schöner Musik
und sogar Kerzenlicht zu schaffen. Die erste Reinigung mit Glaubersalz
spielt die Rolle eines Übergangsrituals
/„rite de passage“ (van Gennep 1981
[1909]), durch das man den Körper vom normalen Zustand auf das Fasten
umstellt.
Peter Ebenbauer und Isabelle Jonveaux | Zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung
Es geht um eine umfassende Reinigung,
die auch eine spirituelle Dimension besitzt.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven