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63 | www.limina-graz.eu mieren zu müssen. Der durch rituelle Handlungsformen und Stabilisie-
rungen gewährleistete Konsumkreislauf ist heute maßgeblich mitverant-
wortlich für die Ordnung und das Funktionieren liberaler Gesellschaften. In
enger Verzahnung von Wirtschaft, Medien und Politik wird der Aufrecht-
erhaltung und dem quantitativen Wachstum dieses Kreislaufes höch-
ste Priorität eingeräumt. Dass damit de facto die Unterwerfung unter ein
kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit beträchtlichen
sozialen, politischen und kulturellen Kollateralschäden verbunden ist,
bleibt durch den Zauber des symbolisch überhöhten Wohlstandsverspre-
chens im Sinn von Kaufkraft, Konsum, Selbst-Performanz und Besitz noch
immer weitgehend verschleiert. Wenn sich auch Gegenentwürfe zu dieser
Weltordnung etablieren und Ansätze zu ihrer Korrektur international an-
gestrebt werden (im Sinn von globaler Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Ge-
meinwohl, Ressourcenschonung und Klimazielen), so ist die auf Wettbe-
werb und Konkurrenz ausgerichtete Ökonomisierung aller Lebensbereiche
doch so weit fortgeschritten, dass selbst Kunst, Kultur, Bildung und Reli-
gion von den Mechanismen und Kreisläufen des Marktes und seiner Rituale
substanziell mitgeprägt sind.
5. Zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung
Es sieht also möglicherweise nur so aus, als ob man im Zusammenhang mit
dem Bedürfnis nach neuen rituellen Praktiken einen allgemeinen Trend
zur Selbstermächtigung feststellen könnte. Geht es dabei tatsächlich um
freiwillig angestrebte Selbstkontrolle und Emanzipation? Oder wird dieses
Bedürfnis durch einen Zwang anderer Art gesteuert?
1991 veröffentlichte der französische Soziologe Alain Ehrenberg ein Buch,
das den Titel Der Kult der Performanz trägt. Darin analysiert er gesell-
schaftliche Entwicklungen, in denen die Performanz zu einem von außen
auferlegten Zwang wird; „jedes Individuum muss, im Bereich der Arbeit,
der Freizeit oder des Gefühlslebens, sein Leben gestalten wie ein wahrer
Experte seiner eigenen Performanz. […] Wir sind von nun an aufgerufen,
Unternehmer unseres eigenen Lebens zu sein“5. (Ehrenberg 1991, 16)
Die persönliche Selbstentwicklung ist also zu einer gesellschaftlichen Not-
wendigkeit geworden. Paradoxerweise geht damit auch das Streben nach
Selbstermächtigung mit einem Zwang einher und steht de facto unter dem
Vorzeichen einer Unterwerfung. Die Fastenwoche illustriert diese Situation.
Wie schon erwähnt, stellen sich die Fastencoachs nicht als Autorität vor. Sie
Peter Ebenbauer und Isabelle Jonveaux | Zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung
5 Im Original: „chaque individu
doit, dans son travail, ses loisirs
ou sa vie affective, conduire sa vie
comme un vrai professionnel de sa
propre performance. […] Nous som-
mes désormais sommés de devenir
les entrepreneurs de nos propres
vies“ (Übers. I.J.).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven