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72 | www.limina-graz.eu den starken biblischen Frauenfiguren und ihren Botschaften durchaus
schwer getan hat. Religiöse Traditionen können eben ermächtigend, aber
auch entmächtigend wirken – subversiv oder, je nach dominierendem Aus-
legungsinteresse, Widerstand immunisierend, die bestehenden Machtver-
hältnisse stabilisierend.
Das Lied der Hanna (1 Sam 2,1–10): Erhöhung der Armen
Eine fundamentale, geradezu „proto-feministische“ Kritik des sozialen,
ökonomischen und politischen Systems bringt das aus der Spätzeit des
AT stammende Hanna-Lied in 1 Sam 2,1–10 zu Gehör.5 Es lässt vielfältige
Not- und UnterdrĂĽckungssituationen im Rahmen hierarchischer Macht-
beziehungen sichtbar werden, aber auch widerständige Strategien. Gerade
im Protest werden Macht und Gegen-Macht sichtbar.
Aufgrund ihrer Kinderlosigkeit (vgl. 1 Sam 1,2.5–6) ist Hanna in einem pa-
triarchalen Gesellschaftssystem, das den Wert von Frauen insbesondere
an ihren Söhnen misst, Schmähungen und Kränkungen ausgesetzt (zum
breiten biblischen Motiv der Unfruchtbarkeit siehe Taschl-Erber 2013,
101–128). Doch sie „steht auf“ (1 Sam 1,9) und wendet sich im Tempel von
Schilo an JHWH. Den erbetenen Sohn (siehe die Namensdeutung Samuels
in V. 20) verspricht sie der Gottheit zu weihen:6 „wenn du auf die Erniedri-
gung deiner Sklavin schaust“ (1 Sam 1,11; in der parallelen Formulie
rung
von 9,16 auf das Volk bezogen). Hier erinnert sie an die paradigmatische
Urerfahrung der Rettung Israels – das Hinsehen Gottes auf die Not des Vol-
kes und das Hinhören auf die Schreie der Unterdrückten (siehe Ex 2,23–25;
3,7.9.16; Dtn 26,7; im Rahmen analoger Erfahrungen von Frauen im Kon-
text von Schwangerschaft und Geburt artikuliert: vgl. Hagar, Saras ägyp-
tische Sklavin, in Gen 16,11.13; Lea, die ungeliebte Frau Jakobs, in Gen 29,32;
oder auch Elisabet und Maria in Lk 1,25.48).
Die eingetretene Hilfe Gottes reflektiert Hanna in einem Danklied (1 Sam
2,1–10), das als theologische Deutung der erzählten Ereignisse die narra-
tive Darstellung unterbricht. Indem sie ihre persönliche Rettungserfah-
rung, den unmittelbaren Erzählzusammenhang transzendierend, in einen
generalisierenden Kontext vergleichbarer Erfahrungen stellt, wo Gottes
Parteilichkeit gegenĂĽber den Armen, Schwachen und Erniedrigten zum
Ausdruck kommt, formuliert sie grundlegende Einsichten biblischer Got-
tesrede. Die eigene Erfahrung lässt andere assoziieren bzw. erhoffen (vgl.
Dietrich 2011, 72). Ebenso wird in Ps 113 die Notlage einer kinderlosen Frau
Andrea Taschl-Erber | Die Macht der Ohnmächtigen
5 Zu spätalttestamentlichen Zügen
siehe Dietrich 2011, 76–77. Hutzli
2007, 163–167 denkt an mögliche
BezĂĽge zu Antiochus IV Epiphanes.
6 Vgl. dazu Ex 13,2; Num 6,5; Ri 13,5.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven