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76 | www.limina-graz.eu tungsbewusste Aufgabe der Angesprochenen, „den Herrn zu erkennen und
Gericht und Gerechtigkeit zu üben im Land“ (vgl. Jer 9,22–23, wo die rich-
terliche Tätigkeit von Gott ausgesagt wird; ferner etwa die messianische
Vision in Jes 11). Gemeinsam mit dem David-Psalm in 2 Sam 22, zu dem
zahlreiche Bezüge vorliegen, bildet 1 Sam 2,1–10 einen poetischen Rahmen
der Samuelbücher, der als „theologische Brille“ Israels Königszeit reflek-
tiert (Schroer 1992, 44).
Nicht zuletzt durch die messianische Lektüremöglichkeit des Schlussver-
ses (siehe in der LXX das futurische „und er wird das Horn seines Gesalbten
[χριστοῦ αὐτοῦ] erhöhen“, das mit dem Jubel der Sprecherin „erhöht wurde
mein Horn in meinem Gott“ am Beginn korrespondiert) wird Hanna in der
jüdischen Rezeptionsgeschichte zur Prophetin (vgl. bMeg 14b). So tritt
etwa in der stark erweiterten Version ihres Liedes im Targum Jonathan10
(um 100 n. Chr.) im Rahmen einer apokalyptischen Geschichts
deutung
eine Aktualisierung im Blick auf die Befreiung Jerusalems (das mit einer
unfruchtbaren Frau verglichen wird: vgl. die Zionsmetaphorik bei Deu-
terojesaja) von der römischen Besatzungsmacht zu Tage. Ein Reflex dieser
Traditionslinie kommt offenbar auch in der hochbetagten, Gott perma-
nent im Tempel dienenden Prophetin Hanna in Lk 2,36–38 zum Vorschein
(vgl. ferner das Porträt der – im Anschluss besprochenen – verwitweten,
tora-observanten Judit in Jdt 8,1.4.6; 16,22–23, die das Bild der einzigen
im NT explizit „Prophetin“ betitelten Frauengestalt offenbar ebenso ge-
prägt hat): Im religiös-politischen Widerstand zur mit Rom kooperieren-
den Tempelhierarchie verkündet Hanna öffentlich die messianische Rolle
Jesu „allen auf die Befreiung Jerusalems Harrenden“.11 Das Protestlied in
1 Sam 2 stellt darüber hinaus einen wichtigen Prätext für das Magnificat in
Lk 1 (dazu unten) dar.
Judit: Die rettende Macht Gottes, „der Kriege zerschlägt“
In Auseinandersetzung mit der hellenistischen Herrscherideologie (vgl.
Ego 2016, 20–22) bietet das deuterokanonische, griechisch verfasste Ju-
ditbuch (um 105 v. Chr. nach Schmitz/Engel 2014, 61–63) eine kunstvoll
komponierte fiktionale Erzählung, die bei einer Bedrohung durch eine mi-
litärische Supermacht in weltgeschichtlichem Horizont eine Frauengestalt
als Mittlerin göttlicher Rettung ins Zentrum rückt. Collageartig werden un-
terschiedliche Katastrophensituationen im kollektiven Gedächtnis Israels
sowie biblische Überlieferungen von Rettungserfahrungen verdichtet, um
Andrea Taschl-Erber | Die Macht der Ohnmächtigen
10 Eine Übersetzung findet sich in
Cook 1999, 78–79; siehe auch die
deutsche Wiedergabe bei Schottroff
1986, 33–34.
11 Zur lukanischen Ouvertüre siehe
Taschl-Erber 2011, 2013 und 2014;
ausführlich zur neutestamentlichen
Hanna: Janssen 1998, 159–200.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven