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Hans-Joachim Sander | Gebrochenes Ver(-)sprechen
offen gestanden, es ist für mich bis heute nicht gerade einfach, zu die-
sen Ereignissen zu stehen, sie an- und auszusprechen. Denn noch im-
mer frage ich mich, weshalb ich dies eigentlich alles zulassen konnte?
Warum habe ich mich nicht dagegen gewehrt? Steckt da nicht Feigheit
und Mangel an Courage dahinter? Und eine weitere Frage drängt sich
mir in diesem Zusammenhang auf. Wie weit bin ich, als ich das System
unterstützte – und diese Zeit gab es sehr wohl – an anderen schuldig
geworden?“ (Czernin 1998, 197–198)
Scham knechtet nicht, indem sie jemanden anderen, etwa den Täter, als
schuldig verurteilt, sondern weil sie eine Diskrepanz gegenüber einer Nor-
malität offenbart, an der das Opfer bereits gescheitert ist, sobald der Grund
für die Scham eintritt. Diese Diskrepanz ist nicht mehr zu schließen, eben
weil sie offenbar geworden ist. Dabei genügt es sogar, dass sie nur der vom
Missbrauch betroffenen Person offenbar geworden ist. Und sie vertieft sich
mit jedem Moment einer öffentlichen Zerknirschung darüber umso mehr.
Mit der Scham, die öffentlich wird, verliert ein Mensch alles an Sicher
heit,
was er zuvor besaß, während jemand in der Schuld, die öffentlich wird,
nur so weit verunsichert wird, dass er erst durch das Bekennen der Schuld
und eine ehrliche Absicht der Besserung zurück zur normalen Sicherheit
gelangen kann. Wer sich genötigt sieht, sich zu schämen, kann diese Si-
cherheit jedoch nicht wieder gewinnen. Es gibt keinen Ausweg – außer
man ist bereit, schamlos zu werden. Kardinal Groër brachte zu Fall, dass
er ausgerechnet diesen Ausweg gewählt hatte, statt zu seiner Schuld zu
stehen und darüber öffentlich zu sprechen. Aber er wollte unter allen Um-
ständen schuldlos bleiben – und wurde gerade deshalb zum schamlosen
Unschulds lamm.
In und durch Schuld sowie ihr Eingeständnis wird jemand angestiftet, sich
zu bessern und zu verbessern. Das nötigt den anderen Respekt ab. Durch
und mit Scham wird jemand dagegen genötigt, die eigene Inferiorität an-
zuerkennen, die die Position der anderen verbessert. Das verkettet die Op-
fer des sexuellen Missbrauchs so sehr mit den Tätern, dass sie den Opfern
deshalb leichtfüßig und mit heiliger Unverschämtheit auch ihre eigene
Scham – falls vorhanden – ganz und gar zuschieben können. Während je-
mand, der öffentlich zu seiner Schuld steht, wertschätzende Aufmerksam-
Mit der Scham, die öffentlich wird, verliert ein Mensch alles an Sicher
heit,
während jemand in der Schuld, die öffentlich wird, durch das Bekennen
der Schuld zurück zur normalen Sicherheit gelangen kann.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven