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135 | www.limina-graz.eu zu schaffende Hochkultur. Sie treten stets nur relativ zur Geschichte und
zum Verbreitungsraum der jeweiligen Kultur auf und lassen sich nicht mit
anderen vermitteln. Kultur lässt sich erst relativ zu diesen Verhaltensmus-
tern verhandeln, was sie zu einer hochkomplexen Angelegenheit macht.
In diesem relativen und zugleich komplexen Sinn sprach Benedict von
Schuld- und Schamkulturen, die man nicht miteinander verwechseln darf,
weil man sonst elementare Verhaltensmuster völlig missversteht.
„Vom Schamgefühl bestimmte Kulturen vertrauen auf externe Sank-
tionen, um richtiges Verhalten zu erzielen, und nicht, wie dies vom
Schuld gefühl bestimmte Kulturen tun, auf eine von innen kommende
Überzeugung der Sündhaftigkeit. Schamgefühl ist eine Reaktion auf die
Kritik der anderen. Ein Mensch fühlt sich beschämt, wenn er öffentlich
verlacht und kritisiert wird oder sich nur vorstellt, lächerlich gemacht
worden zu sein. In beiden Fällen handelt es sich um eine wirksame
Sanktion. Aber sie bedarf eines Publikums oder zumindest der Vorstel-
lung, daß es ein Publikum geben könnte. Das Schuldgefühl bedarf dessen
nicht.“ (Benedict 2006, 196–197)
Wenn sich in einer Kultur, die auf Schuld und Schuldüberwindung durch
reuige (Ver-)Besserung der Person basiert wie die kirchliche Kultur des
Glaubens in der lateinischen Tradition, Scham bei denen einnistet, die Opfer
dieser Schuld geworden sind, dann entsteht eine geradezu heillose Matrix
aus der Macht der Täter, die auf Kosten der Ohnmacht der Opfer triumphiert.
Denn in dieser Konstellation fehlen die kulturellen Muster, um über die
Scham hinwegzukommen, die auf der Seele der Opfer lastet, während die
kulturellen Muster, Schuld zu sühnen, für die Täter breit vorhanden sind.
Die Opfer, obwohl unschuldig, können die Schuld der Täter nicht anklagen,
ohne sich tiefer in die Scham zu verstricken, die sie knechtet.
In der katholischen Kirche hat sich dieser Schuld-Scham-Zusammenhang
durch den sexuellen Missbrauch eingenistet. In der Bekämpfung der mon-
strösen Macht des Missbrauchs geht es daher um weit mehr, als mora-
lische Verfehlungen der Täter und welcher ihrer Unterstützer auch immer
aufzuarbeiten. Darum geht es natürlich auch, aber das ist die wesentlich
leichtere Übung. Viel komplexer ist die Konfrontation, dass die kirchliche
Hans-Joachim Sander | Gebrochenes Ver(-)sprechen
Es fehlen die kulturellen Muster, um über die Scham hinwegzukommen,
die auf der Seele der Opfer lastet, während die kulturellen Muster,
Schuld zu sühnen, für die Täter breit vorhanden sind.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven