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180 | www.limina-graz.eu Einleitung
„Buchreligion“ ist eine Bezeichnung für Religionen, die ihre Glaubens-
inhalte aus textlichen Offenbarungen entnehmen. Sie können dabei auch
dem materiellen Träger dieser heiligen Texte sakrale Funktionen zu schrei-
ben. Gerne werden das Judentum, das Christentum und der Islam als Pro-
totypen von Buchreligionen angeführt, auch wenn Friedrich Max Müller
(1873, 102–103) in seiner Definition noch Hinduismus, Buddhismus, Zo-
roastrismus, Konfuzianismus und Daoismus dazu zählte und das für einige
aus dieser Liste noch in der grundlegenden Untersuchung des Phänomens
„Buchreligion“ von Gustav Mensching (1959, 97–108) galt. Unter diesen
haben die drei monotheistischen Buchreligionen gemeinsam, dass sie sich
um eine zuverlässige Textgestalt ihrer Grundlagentexte bemühen. Es gibt
deshalb in allen drei alte Traditionen systematischer Bewertung von Text-
varianz und anderen Fragen der Form des Textes. Dazu zähle ich die Über-
setzungsarbeit des Hieronymus, die Leistungen der Masoreten oder die
Diskussion der Qirāʾāt. Es gibt moderne wissenschaftliche Produkte dieser
Bemühungen: z. B. ist der Nestle-Aland (Nestle/Aland/Aland 2012, im Fol-
genden als NA28) eine Handausgabe als Teil des Prozesses der Editio Critica
Maior des Neuen Testaments. An der kritischen Editionen des Tenach, d. h.
der hebräischen Bibel, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl.
Baker 2010, Tov 2013) an drei Orten parallel gearbeitet worden. Schließlich
ist auch der Kairiner Koran (Al-Qurʾān 1924) ein Beispiel. Im Falle des Ko-
ran muss dabei die Vorsicht walten, dass eine kritische Edition nicht not-
wendig mit einer historisch-kritischen Textauslegung einhergehen muss.
So ist der Kairiner Koran Anstoß für das Bemühen westlicher Forscher
(Bergsträßer 1930; Jeffrey 1935) um eine textkritische Edition in den 1930er
Jahren gewesen.
Im Folgenden soll es um diese moderne wissenschaftliche Auseinanderset-
zung mit der Textgestalt gehen, und zwar unter Einsatz digitaler Metho-
den, also um „digitale Edition“. Auf Grund ihrer textkritischen Tradi-
tionen stehen die drei monotheistischen Buchreligionen im Mittelpunkt
der Untersuchungen. Ich beschränke mich aber auch deshalb, weil mir aus
dem Reichtum der asiatischen Buchreligionen noch keine digitale Edition
geläufig ist.2
Spätestens die Markterfolge des Amazon-E-Book-Lesegeräts Kindle und
die Diskussion des Feuilletons über die Verdrängung der gedruckten Bü-
cher durch sogenannte E-Books seit 2010 machen deutlich, dass die phy-
sische Form eines Buches nicht unbedingt der Codex ist. Wissenschaftliche
Georg Vogeler | Religion aus Daten?
2 Eine Übersicht über die linguis-
tischen Corpora der Veden gibt das
Göttinger Register elektronischer
Texte in Indischen Sprachen
(GRETIL).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven