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192 | www.limina-graz.eu Digitales Edieren ist damit grundsätzlich gerechtfertigt. Die Arbeits
weise
und ihre Produkte haben aber Wirkungen, die theologisch unterschiedlich
bewertet werden können.
Claire Clivaz (2017) hat das jüngst für die protestantische Bibelarbeit zu be-
schreiben versucht: Neben den Forschungsergebnissen, die einen Wandel
vom „Text“ zum „Dokument“ (Peursen 2010) und dem Schrumpfen des
Neuen Testaments zum bibliardion in den Textmassen des Internets (Clivaz
2014), sieht sie in der Trennung des Textes vom Buch als Medium auch der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung das Potential, die kritische Edi-
tion institutionell zu „deregularisieren“ (Clivaz 2012). Gleichzeitig sieht
sie in der kollaborativen Arbeit am Text einen Ausdruck des gemeinsamen
Bemühens um den Text als Grundlage der Religion, das sie in der Verbin-
dung einer Umformung des protestantischen Prinzips der sola scriptura zu
sola lectura und der Tradition religiösen Lebens in koinonia zusammen-
fasst. Digitale Edition lässt also einen religiösen Grundlagentext entste-
hen, der nicht in seiner Eigenschaft als Schriftstück gemeinschaftsstiftend
ist, sondern in seiner Beschäftigung mit ihm in der Vielfalt seiner Ausprä-
gungen. Schließlich weist sie noch auf die Möglichkeit des Computers hin,
Texte nicht nur als Schrift sondern auch in anderen Medien zu vermitteln.
So können z. B. gesprochene Formen des Textes besonderen Erfolg haben.
Einige dieser Beobachtungen kann man auch bei den anderen hier bespro-
chenen Grundlagentexten finden. Im Vergleich der drei monotheistischen
Buchreligionen sind die Ergebnisse weniger eindeutig. Die digitalen Me-
thoden im Bereich der Edition sind zwar häufig vom Impetus der Dekanon-
isierung begleitet, es gibt aber ebenso digital gestützte Forschung, die den
einen richtigen Text zum Ziel hat. Die Arbeit am Corpus Coranicum muss
nicht in eine Dekanonisierung des Uthmanschen Korans münden, sondern
kann die schriftliche und mündliche Überlieferung davon unabhängig kon-
textualisieren: Lernen wir nicht eher etwas über die menschliche Beschäf-
tigung mit der göttlichen Offenbarung in ihrer Frühzeit als über die Histo-
rizität des Korans?
Nicht erst der Computer hat die mündlichen Formen der Textpräsentation
im Islam zum Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ge-
stalt des Korantextes gemacht. Die digitale Edition formalisiert vielmehr
den Text in seinem Facettenreichtum, indem sie ihn in einem in der Grund-
Georg Vogeler | Religion aus Daten?
Digitale Edition lässt einen Text entstehen, der durch die Beschäftigung
mit ihm gemeinschaftsstiftend wird.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven