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223 | www.limina-graz.eu Biotechnologien zu unterminieren scheint. Versteht man nämlich das
Subjekt vor allem als Effekt spezifischer Wahrheitsregimes und sozialer
Herrschaftstechniken, stellt sich die Frage, auf welchem Boden und an-
hand welcher Kriterien diese überhaupt kritisiert werden können, wenn es
dabei um mehr gehen soll als um die Ablöse des einen Wahrheitsregimes
durch ein anderes.7 Ein Blick auf die soziale Theorie, die hier im Hinter-
grund steht, zeigt, dass die anthropologischen Bedingungen von Sozie
tät
ausgeblendet werden und so kaum ein Raum offen bleibt für die Individuen
als gegenüber der Gesellschaft aktive und produktive Akteure.8 Für die Frage
der bioethischen Diskurse, die in einer Gesellschaft geführt werden, hat
dies zur Folge, dass sie ebenso als Effekt bestimmter Wahrheitsregimes
und nicht als Orte einer kritischen und produktiven Selbstaufklärung des
Subjekts in den Blick kommen.
Eine weiterführende Rezeption der Foucaultʼschen Analysen zur Biomacht
setzt aus ethischer Sicht daher zweierlei voraus. Man muss erstens dem
Subjekt einen stärkeren Status gegenüber der sozialen Wirklichkeit zuer-
kennen, und man muss zweitens, darauf aufbauend, die verschiedenen
Diskurse, die in einer Gesellschaft über neue Technologien geführt werden,
trotz unbestreitbarer Schwächen und Einseitigkeiten als Orte anerkennen,
an denen eine weiterführende Selbstaufklärung, eine normative Selbst-
vergewisserung und, daraus resultierend, eine verantwortete Entschei-
dungsfindung möglich sind.
Dem kommt entgegen, dass nach Foucault die Biomacht nicht als un-
fehlbar wirkende Naturgewalt verstanden werden darf, sondern im Sinn
einer Kräftekonstellation, der auf Seiten des Individuums immer ein „Feld
möglicher Reaktionen“ entspricht (Bröckling 2017, 10–11). Dies und die
späten Ausführungen Foucaults über die Möglichkeit einer Selbstfor-
mung des Subjekts mittels Selbsttechniken auch gegen den Einfluss ge-
sellschaftlicher Kräfte (Ruoff 2007, 199) eröffnen auch von Seiten einer
Biomacht-Analyse einen Ansatzpunkt für einen Freiheitsspielraum im
Umgang mit dem biotechnologischen Fortschritt. Allerdings darf Freiheit
dabei nicht absolut als Handlungsmöglichkeit jenseits aller Kräftekonstel-
lationen gedacht werden, sondern etwa in dem Sinn, wie Peter Bieri es in
seinem Beitrag Das Handwerk der Freiheit tut, nämlich als Möglichkeit des
Menschen, sich reflexiv und wertend zu Kräften in Beziehung zu setzen, die
das eigene Selbst konstituieren.9
Walter Schaupp | Genom-Editierung als Schlüsseltechnik der Zukunft
7 Der Ausweg, den Thomas Lemke
auf Basis seiner an Foucault orien-
tierten Analysen anbietet, nämlich
die Aufforderung, immer wieder zu
„irritieren“ und „anders zu leben“
(Lemke 2008, 86), erscheint aus
ethischer Sicht als nicht weiterfüh-
rend, weil wir dann Freiheitsregimes
und totalitäre Regimes, patriarchale
und egalitäre Partnerschaftsmo-
delle in gleicher Weise kritisieren
müssten.
8 So Ulrich Bröckling, der den An-
satz aus verschiedenen Gründen
trotzdem verteidigt (Bröckling
2017, 45); kritisch aus sozialwis-
senschaftlicher Sicht Lüdtke 2011 u.
Greshoff 2011.
9 Peter Bieri spricht von einer „an-
geeigneten Freiheit“ als Resultat
einer Auseinandersetzung mit dem
eigenen (spontanen) Willen in den
drei Schritten Artikulation, Verste-
hen und Billigung; vgl. Bieri 2001,
381–408; vgl. auch Schaupp 2016.
Grenzen der Theorie über Biomacht
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 1:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 1:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 236
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven