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73 | www.limina-graz.eu eigneter rechtlicher Strukturen, um die Menschenrechte zu schützen. Aber
es kommt auch auf die Einstellung der Menschen an, auf das gesellschaft-
liche und politische Klima, auf die Haltung und Überzeugung politischer
Entscheidungsträger. Es kommt auf das „Beziehungssystem“ an, in dem
die Menschen leben (vgl. Arendt 2005, 614). In diesem wird der Geist der
Menschenrechte – das Rückgrat des Rechts – gelebt oder verfehlt. Was das
eine wie das andere heißen kann, möchte ich exemplarisch am Umgang mit
der Flüchtlingskrise in Deutschland verdeutlichen.
Die Flüchtlingskrise als Spiegel ungerechter Verhältnisse
Angesichts rechtsextremistischer Ausschreitungen in Chemnitz im August
und September 2018 bezeichnete der deutsche Innenminister Horst See-
hofer die Migrationsfrage als „die Mutter aller politischen Probleme“
(Bröcker/Quadbeck 2018). Die etablierten Parteien würden weiter an Ver-
trauen verlieren, wenn es in der Migrationspolitik nicht zu einem Kurs-
wechsel käme und die Ordnung der Humanität gleichberechtigt zur Seite
gestellt würde. Anders als Seehofer sehe ich die Migrationsfrage nicht als
die Mutter aller politischen Probleme, sondern als den Spiegel nationaler
und internationaler Ungerechtigkeiten. Es ist eine verständliche mensch-
liche Reaktion, die Offenbarung von Problemen als Ursache von Problemen
anzusehen: Wenn wir den Spiegel vorgehalten bekommen und auf unlieb-
same Weise mit unseren Unzulänglichkeiten konfrontiert werden, meinen
wir, der Spiegel sei das Problem. Gerechtfertigt ist diese Reaktion bei ge-
nauerem Hinsehen nicht. Sie wehrt das ab, was nötig ist: eine durch Selbst-
erkenntnis getragene Verwandlung von Einstellungen. Selbsterkenntnis
ist schmerzhaft, führt sie uns doch vor Augen, wo wir uns selbst verfeh-
len. Wie könnte eine solche Selbsterkenntnis aussehen? Ich betrachte zwei
miteinander zusammenhängende Beispiele: die Haltung der deutschen
Regierung zu Fluchtursachen und das innerdeutsche Verhältnis zwischen
Ost- und Westdeutschen. An beiden Beispielen lässt sich in der Tat beides
erkennen: die Notwendigkeit zur Selbstreflexion und die Bereitschaft zur
Selbstkorrektur.
margit Wasmaier-sailer | recht tun – recht verlangen
Wenn wir den Spiegel vorgehalten bekommen und auf unliebsame Weise mit unseren
Unzulänglichkeiten konfrontiert werden, meinen wir, der Spiegel sei das Problem.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven