Seite - 90 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
Bild der Seite - 90 -
Text der Seite - 90 -
90 | www.limina-graz.eu
axel Bernd Kunze | staat – Identität – recht
ein letztlich austauschbares, häufig kolonial vorbelastetes, mehrheitlich
bereits überwunden geglaubtes Narrativ. Schon der Blick in andere Länder
der Europäischen Union – nicht allein Osteuropas – zeigt, dass nationale
Kategorien allerdings weiterhin die politische Realität und das politische
Denken bestimmen. Viele deutschsprachige Sozialethiker stehen diesem
Phänomen in der gegenwärtigen Integrationsdebatte eher hilflos gegen-
über. Es wirkt so, als könnten der Bezug auf die Menschenrechte oder ein
globales Gemeinwohl den Staatsbezug ersetzen. Zur Begründung wird nicht
selten auf komplexe soziale Zugehörigkeiten in einer globalisierten Welt
verwiesen, die in nationalstaatlichen Kategorien nicht mehr angemessen
zu fassen seien; zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterschei-
den, greife zu kurz, so der Tenor.
Verkannt wird dabei die Doppelrolle des Staates, der sowohl Adressat als
auch Garant der Menschenrechte ist (vgl. Kirchhof 2004). Auch die For-
derung nach mehr suprastaatlicher Kooperation geht letztlich von der
Fortexistenz souveräner Staaten aus, die zusammenarbeiten, gemeinsam
nach Lösungen suchen und bereit sind, diese schließlich durchzusetzen.
Hieran erinnern die Worte von Papst Franziskus zum siebzigjährigen Jubi-
läum der Vereinten Nationen; in seiner Ansprache am 25. September 2015
vor der Generalversammlung in New York würdigte er die „Geschichte der
von den Staaten organisierten und durch die Vereinten Nationen vertre-
tenen Gemeinschaft“ als eine „Geschichte bedeutender gemeinsamer Er-
folge“ (Franziskus 2015). Die Herausforderungen einer globalisierten Welt
werden nicht an den Nationalstaaten vorbei, sondern nur durch staatliche
Zusammenarbeit zu lösen sein. Für die Gestaltung der Weltgesellschaft ge-
nügt ein affektiv gestiftetes Gemeinschaftsbewusstsein nicht; hierfür be-
darf es rechtsetzender Institutionen und wirksamer Sanktionsorgane.
Die katholische Sozialverkündigung hat daher zu Recht daran festgehalten,
so etwa Johannes Paul II. in seiner Ansprache vor den Vereinten Nationen
zum fünfzigjährigen Bestehen der Weltorganisation am 5. Oktober 1995
oder in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis (Nr. 15), dass die staatliche
Souveränität weiterhin ein wichtiger Garant für die Sicherung internatio-
nalen Rechts und die Freiheit zwischen den Nationen darstellt (vgl. Päpst-
licher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006, Nr. 434–435). Vielmehr
bliebe das abstrakte Modell einer Weltinnenpolitik dem Recht gegenüber
Verkannt wird die Doppelrolle des Staates, der sowohl Adressat
als auch Garant der Menschenrechte ist.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven