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axel Bernd Kunze | staat – Identität – recht
Es steht zu befürchten, dass Europa gerade diese Stärke verspielt, wenn die
Vielfalt durch einen suprastaatlichen Zentralismus ersetzt wird.
Das sozialethische Prinzip der Subsidiarität ist in Europa zwar vertrags-
rechtlich verankert, etwa in Art. 5 Abs. 3 EUV (Vertrag über die Europäische
Union), bleibt in der politischen Realität aber deutlich unterbelichtet (vgl.
zum Folgenden Calliess 2012). Anstatt eine substantielle materielle Sub-
sidiaritätskontrolle vorzunehmen, wird die nach Art. 296 AEUV (Vertrag
über die Arbeitsweise der Europäischen Union) der Europäischen Kommis-
sion obliegende Begründungspflicht vielfach als lästige Formsache ab-
gehandelt. Als tiefere Ursachen lassen sich – neben einer Überforderung
durch die Dynamik europäischer Entscheidungsprozesse – grundlegen-
de Konstruktions
fehler im Zusammenspiel der verschiedenen Organe der
Euro päischen Union ausmachen: Die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips
ist vorrangig Unionsorganen anvertraut, die sich der Unionsseite verpflich-
tet fühlen und sich einem Dilemma doppelter Erwartungen gegenüber-
sehen: Einerseits sollen sie die Unionsziele verwirklichen, andererseits
sich selbst zurücknehmen. Und auch der Europäische Gerichtshof hat sich
demgegenüber häufig eher als treibende Kraft im Prozess der Integration
und weniger als Kontrollinstanz verstanden.
4. Notwendige Rechtsfunktion des Staates
Das Volk als Souverän gibt sich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt
eine Verfassung. Wer diesen nationalen Bezug verkennt, läuft Gefahr, die
rechtliche Ordnung aufzulösen. Die Freiheitsbewegung des neunzehnten
Jahrhunderts wusste, wie das Lied der Deutschen aus der Feder Hoffmanns
von Fallersleben zeigt, um den Zusammenhang von Einigkeit und Recht
und Freiheit. Die von der Verfassung verbürgten Rechte und Grundfrei-
heiten können nur in einer auf gemeinsame Orientierungswerte gegrün-
deten Rechtsgemeinschaft konkret werden. Dies leistet der souveräne Na-
tionalstaat, der allein die Macht hat, das Recht auch durchzusetzen und die
Inter essen des Souveräns nach innen und außen zu schützen.
Der Zweck des Staates als einer sittlichen Ordnungseinheit liegt in der
Förderung der Personwürde und in der Sicherung des Gemeinwohls. Die
Menschenrechte schützen die gleiche Würde aller, ermöglichen aber als
Freiheitsrechte gerade Differenzierung – auch in kultureller Hinsicht.
Zum einen ermöglicht die Mannigfaltigkeit der Staatenwelt, wenngleich
sie auch Ursache zwischenstaatlicher Konflikte sein kann, die Entfaltung
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven