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Franz Gmainer-Pranzl | â... mit dem menschengeschlecht und seiner Geschichte wirklich innigst verbunden ...â
Die aktuellen Entwicklungen in Europa und weltweit, die von einem er-
starkenden Nationalismus, identitÀren Diskursen und rechtspopulisti-
schen Politikstrategien, von illiberalen religionspolitischen Koalitionen
und einer aggressiven Ăkonomisierung vieler Lebensbereiche geprĂ€gt
sind, haben viele Menschen ĂŒberrascht und regelrecht ĂŒberrollt; sympto-
matisch dafĂŒr sind Wahlsiege rechter Parteien, die noch vor einiger Zeit
niemand ernst nahm, oder politische Parolen (gegen liberale, grĂŒne oder
sozialdemokratische Politiken, gegen Migrantinnen und Migranten, gegen
Menschen mit Behinderung, gegen Frauen und sozial Ausgegrenzte usw.),
die man noch vor zehn Jahren kaum öffentlich auszusprechen wagte. Ne-
ben dem europÀischen Szenario, das immer stÀrker von zentrifugalen und
isolationistischen KrÀften beeinflusst wird, toben in mehreren LÀndern der
Welt erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, die ihre Identi-
tĂ€ten kulturell und vor allem religiös aufladen â Syrien ist hier das bekann-
teste und traurigste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel.
Als âKronzeugeâ dieser Entwicklung wird hĂ€ufig Samuel Huntington ge-
nannt, dessen Clash of Civilizations (1996) einen Ăbergang von ideologisch-
politischen PrÀgungen (kapitalistisch/sozialistisch) zu kulturellen Iden-
titĂ€ten (wir/andere) diagnostizierte: âDie Frage âAuf welcher Seite stehst
du?â ist ersetzt worden durch die viel elementarere Frage âWer bist du?ââ
(Huntington 1996, 193). Huntingtons essentialistischer Kulturbegriff so-
wie sein Konzept konfligierender âKulturkreiseâ wurden zwar massiv kri-
tisiert und beispielsweise von Harald MĂŒller als âpolitikwissenschaftlicher
ManichĂ€ismusâ (MĂŒller 1998, 22) bezeichnet; in den letzten zwei Jahr-
zehnten, die seit dem Erscheinen des Buches vergangen sind, hat aller-
dings die globale politische RealitÀt die hÀrtesten Thesen Huntingtons, was
âIdentitĂ€tskriegeâ (Huntington 1996, 415) oder die Dynamik von âBruch-
linienkriegenâ (ebd., 441) betrifft, ĂŒberholt. Wer etwa im Jahr 1996 noch
folgende ErklĂ€rung einer âWir-gegen-sieâ-Tendenz bei Huntington las:
âHassen ist menschlich. Die Menschen brauchen Feinde zu ihrer Selbst-
definition und Motivation: Konkurrenten in der Wirtschaft, Gegner in der
Politik. Von Natur aus misstrauen sie und fĂŒhlen sich bedroht von jenen, die
anders sind und die FĂ€higkeit haben, ihnen zu schaden.â (ebd., 202), emp-
fand diese Formulierung als maĂlose Ăbertreibung; die Wirklichkeit, wie
gesagt, hat diese Position lÀngst eingeholt. Ein halbes Jahrhundert vorher
Die aktuellen Entwicklungen haben viele Menschen
ĂŒberrascht und regelrecht ĂŒberrollt.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven