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Richard Sturn | Generationengerechtigkeit, Generationenvertrag und Entsolidarisierung
Null liegenden Diskontrate abdiskontiert. Hierfür gibt es folgende Rechtfertigung: Es ist
im utilitaristischen Rahmen ethisch prinzipiell überhaupt nicht vertretbar, die Nutzen
und Kosten zukünftiger Generationen geringer zu gewichten als jene der derzeit leben-
den. Insbesondere ist es nicht legitim, den vorliegenden intergenerationalen Entschei-
dungskontext mit Modellen unendlich lebender Agenten (denen entsprechende Zeitprä-
ferenzraten unterstellt werden können) zu approximieren. Allerdings kann man in einem
Mehr-Generationen-Kontext für jede Generation ein exogenes Risiko annehmen, dass
die Menschheit ausgelöscht wird – und genau dieses Risiko steht in mathematischem
Zusammenhang mit jener nur wenig über Null liegenden Diskontrate, die Stern annimmt
(vgl. dazu auch Heal 2008).
Wo liegt nun das Problem? In der neoklassischen Ökonomik stehen Diskontraten in lo-
gischer Verbindung mit den Marktzinssätzen. Der Marktzinssatz wird als intertempo-
raler Knappheitspreis verstanden, der die intertemporale Allokation knapper Ressour-
cen, insbesondere die Kapitalbildung bzw. die Allokation knapper Kapitalressourcen, auf
verschiedene Investitionsprojekte reguliert. Der Zinssatz wird daher vielfach auch als
marktförmig „legitimierte“ soziale Diskontrate angesehen, die aufgrund der Präferenzen
der vielen Marktteilnehmer unter Bedingungen kapitalbrauchender Produktion zustande
kommt. Dabei muss angenommen werden, dass der normativ relevante Marktzinssatz
unter den verschiedenen Zinssätzen, die zudem konjunkturell variabel sind, sinnvoll be-
stimmbar ist. Viele Ökonomen sind nun der Auffassung, dass diese preistheoretische Lo-
gik bei allen Arten von intertemporal wirksamen Entscheidungen zum Tragen gebracht
werden muss. Wer einen Zinssatz von Null (oder, wie Nicholas Stern, nahe bei Null) an-
setzt, unterliegt nach Ansicht dieser Ökonomen dem systematischen Risiko, „falsche“
Projekte zu wählen und damit Ressourcenverschleuderung zu betreiben. Geoffrey Heal
(1997) schlägt hier einen „Mittelweg“ vor, der sowohl den intergenerativen Gerechtig-
keitsaspekt als auch den Effizienzaspekt hinsichtlich der Kapitalnutzung berücksichtigen
soll. Andere sind der Ansicht, dass in adäquaten Mehr-Generationen-Modellierungen im
Entscheidungskontext weitreichender globaler Klimapolitik eine Diskontrate von (nahe)
Null anzusetzen ist. Tatsächlich könnte ein weitreichendes Problem wie das Klimaprob-
lem mit irreversiblen Folgen „wegdiskontiert“ werden (zumindest als heute relevantes
Problem), wenn immer jeweils Marktzinssatz-nahe Diskontraten für die relevanten po-
litischen Makro-Entscheidungen angesetzt werden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 222
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven